Gesammelte Werke 6
»Aber ich habe vergessen, wie viel es war. Und jetzt weiß ich nicht, was ich machen soll.« Er verstummte.
Edik wartete noch eine Weile auf eine Fortsetzung der Geschichte, dann sagte er: »Wisst ihr übrigens, dass er immer, wenn wir nachts zusammenarbeiten, Schlag Mitternacht verschwindet und fünf Minuten später wiederkommt? Und ich habe jedes Mal den Eindruck, dass er dann herauszufinden versucht, woran wir gearbeitet haben, bevor er verschwand.«
»Stimmt«, sagte Roman. »Das kenne ich. Mir ist schon vor längerer Zeit aufgefallen, dass er um Mitternacht einen totalen Gedächtnisschwund hat. Und das ist ihm sehr wohl bewusst. Er hat sich ein paarmal dafür entschuldigt und behauptet, das sei reflexbedingt und die Folge einer schweren Verletzung.«
»Der Mann hat tatsächlich Gedächtnislücken«, meinte Wolodja Potschkin. Er zerknüllte seine Berechnungen und warf sie unter den Tisch. »Ständig fragt er einen, ob man ihn gestern getroffen hat oder nicht.«
»Und wenn ja, worüber man mit ihm gesprochen hat«, fügte ich hinzu.
»Gedächtnis, Gedächtnis«, murmelte Vitka ungeduldig. »Was hat das Gedächtnis damit zu tun? Gedächtnislücken haben viele. Aber darum geht es nicht. Was ist das mit den parallelen Räumen?«
»Wir müssen erst die Fakten zusammentragen«, mahnte Edik.
»Papageien, Papageien«, fuhr Vitka fort. »Sind es vielleicht doch nur Doubles?«
»Nein«, entgegnete Wolodja Potschkin. »Ich hab’s gerade durchgerechnet. In keiner Kategorie gibt es Übereinstimmungen. Es können keine Doubles sein.«
»Gewöhnlich verschwindet er um Mitternacht in sein Labor und schließt sich dort für ein paar Minuten ein«, erläuterte Roman. »Einmal aber hatte er es so eilig, dass er die Tür hinter sich offen ließ.«
»Und?«, hauchte Stella aufgeregt.
»Nichts weiter. Er warf sich in seinen Sessel, blieb eine Weile sitzen und kam dann wieder heraus. Gleich darauf fragte er mich, ob wir über etwas Wichtiges gesprochen hätten.«
»Ich muss los«, sagte Vitka und stand auf.
»Ich auch«, meinte Edik. »Wir haben jetzt Seminar.«
»Ich auch«, schloss sich Wolodja Potschkin an.
»Von wegen«, schaltete sich Roman ein. »Du, Wolodja, bleibst hier und tippst. Ich ernenne dich zum Verantwortlichen. Und du, Stella, setzt dich mit Sascha hin und dichtest. Ich muss jetzt weg. Dass mir die Wandzeitung ja fertig ist, wenn ich am Abend zurückkomme!«
Als sie weg waren, nahmen wir uns wieder die Wandzeitung vor. Anfangs versuchten wir noch, uns etwas auszudenken, merkten aber bald, dass dabei nichts herauskam. Da verfassten wir ein kleines Gedicht über einen sterbenden Papagei.
Als Roman zurückkam, war die Zeitung fertig. Sanja Drosd lag auf dem Tisch und verschlang belegte Brote, während Wolodja Potschkin Stella und mir klarzumachen suchte, warum der Vorfall mit dem Papagei ganz und gar unmöglich war.
»Wunderbar«, lobte Roman. »Eine schöne Wandzeitung. Die Überschrift ist kolossal! Und dieser unendliche Sternenhimmel! Und so wenig Tippfehler! Wo ist der Papagei?«
Der Papagei lag in derselben Petrischale, an derselben Stelle, wo Roman und ich ihn gestern gesehen hatten. Mir stockte der Atem.
»Wer hat ihn da hingelegt?«, wollte Roman wissen.
»Ich«, antwortete Drosd. »Wieso?«
»Ach, nichts«, sagte Roman. »Da liegt er gut. Nicht wahr, Sascha?«
Ich nickte.
»Mal sehen, was morgen mit ihm passiert«, meinte Roman.
4
Da flucht nun dieser arme, alte, unschuldige Vogel, dass es nur so raucht, und versteht kein Wort von dem, was er sagt.
Robert Louis Stevenson
Am nächsten Tag musste ich mich vom frühen Morgen an wieder um meine eigenen Aufgaben kümmern. Mein Aldan war einsatzbereit, und als ich nach dem Frühstück zum Elektroniksaal kam, warteten vor der Tür schon ein paar Doubles mit langen Aufgabenlisten. Das Erste, was ich tat, war, mich an Cristóbal Junta zu rächen, indem ich ihm auf die Liste kritzelte, dass ich seine Handschrift nicht lesen könne. Dann jagte ich sein Double davon. (Cristóbal Juntas Handschrift war tatsächlich schwer zu entziffern – er schrieb Russisch mit gotischen Buchstaben.) Fjodor Simeonowitschs Double brachte mir ein von ihm persönlich erstelltes Programm. Es war das erste, das Fjodor Simeonowitsch selbstständig, ohne Ratschläge und Hinweise meinerseits, zustande gebracht hatte. Ich sah es mir aufmerksam an und stellte erfreut fest, dass es Hand und Fuß hatte. Ich besserte ein paar kleine Fehler aus und übergab das Programm
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