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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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anfangs nicht einmal die Kraft aufbieten, die Holzsplitter zu zerreißen und anzupassen; meine Finger versagten rundweg den Dienst, meine Knie schlugen aneinander. Tausend wahnwitzige Pläne, die mein Teilnehmen an der scheußlichen Lotterie vereiteln sollten, schossen mir durch den Kopf. Ich wollte mich vor meinen Gefährten auf die Knie werfen und sie anflehen, mir diese Notwendigkeit zu erlassen, wollte mich plötzlich auf sie stürzen und einen von ihnen töten, umso die Entscheidung durchs Los überflüssig zu machen; kurz, alles wollte ich eher, als das mir Übertragene durchführen. Endlich, nachdem ich lange Zeit auf diese Unsinnigkeiten verschwendet hatte, rief mich Parkers Stimme zur Besinnung zurück; er drang in mich, ihn und die anderen rasch aus ihrer grässlichen Ungewissheit zu erlösen. Selbst dann konnte ich nicht gleich die Splitter in Ordnung legen, sondern überdachte bei mir jegliche Art von List, durch die ich einen meiner Leidensgefährten verleiten könnte, den kurzen Splitter zu ziehen; denn es war ausgemacht, dass, wer das kürzeste der vier Hölzer zog, für die Erhaltung der Übrigen sterben sollte. Möge mich meiner Herzlosigkeit wegen verdammen, wer sich noch nie in einer solchen Lage befunden hat!
    Endlich war kein Aufschub mehr möglich, und ich schwankte nach dem Vorderkastell, indes mir mein Herz mit seinem Klopfen die Brust zu zersprengen drohte. Ich streckte die Hand mit den Splittern meinen Gefährten entgegen; Peters zog sofort. Er war frei – seiner wenigstens war nicht der kürzeste; eine Wahrscheinlichkeit mehr gegen mein Davonkommen! Ich nahm alle Kraft zusammen und gab die Lose an Augustus weiter. Er zog ebenfalls rasch, war ebenfalls frei; und jetzt waren die Möglichkeiten des Lebens oder Sterbens für mich gleich groß. In diesem Augenblick durchwühlte die Wut eines Tigers meine Seele, und ich empfand gegen dieses arme Mitgeschöpf, Parker, den tiefsten, teuflischsten Hass. Aber dies Gefühl währte nicht lange, und mit einem krampfhaften Schauder und geschlossenen Augen hielt ich ihm die noch übrigen Splitter hin. Volle fünf Minuten dauerte es, bevor er sich entschließen konnte, zu ziehen, und während dieser ganzen Zeit voll herzzerreißender Spannung öffnete ich die Augen nicht. Mit einem Mal wurde eins der beiden Lose schnell aus meiner Hand gezogen. Die Entscheidung war gefallen, doch wusste ich noch nicht, ob für oder gegen mich. Keiner von uns sprach, und ich wagte es nicht, mich selbst zu überzeugen … Endlich nahm Peters meine Hand und zwang mich, aufzuschauen, und sofort erkannte ich an Parkers Antlitz, dass ich frei, dass er der Verurteilte war. Ich rang nach Atem und stürzte bewusstlos aufs Deck hin.
    Ich kam rechtzeitig zu mir, um noch die Vollendung der Tragödie durch den Tod dessen zu schauen, der sie am eifrigsten ins Werk gesetzt hatte. Er wehrte sich nicht im Geringsten; Peters durchbohrte ihn von rückwärts, und er fiel tot zu Boden. Ich darf nicht bei dem grausen Mahle verweilen, das nun folgte. Dergleichen lässt sich träumen, aber von dem höllischen Entsetzen der Wirklichkeit vermögen Worte keine Vorstellung zu geben! Genug! Wir lebten davon vier nie aus dem Gedächtnis wegzulöschende Tage, vom 17. bis zum 20. des Monats.
    Am Neunzehnten kam ein scharfer Regenguss, der etwa eine Viertelstunde dauerte; wir fingen uns etwas Regenwasser in einem Betttuch, das wir gleich nach dem Sturm in der Kajüte aufgefischt hatten. Es mochte nicht mehr als eine halbe Gallone ausmachen; aber schon diese magere Ausbeute erfüllte uns mit Hoffnung und Kraft.
    Am Einundzwanzigsten waren wir wieder in äußerster Not. Das Wetter blieb warm und schön; zuweilen gab es Nebel oder leichte Brisen, meist aus Norden und Westen.
    Am Zweiundzwanzigsten saßen wir eben dicht aneinandergedrängt, unsere klägliche Lage trauervoll bedenkend, da zuckte ein Gedanke durch meinen Sinn, der einen Schimmer leuchtender Hoffnung barg. Ich erinnerte mich, dass nach dem Kappen des Fockmastes Peters mir eine Axt übergeben hatte, die ich an einen sicheren Ort legen sollte, und dass, wenige Minuten bevor die letzte schwere See das Schiff überschwemmte, ich diese Axt in eine der Backbordkojen im Vorderkastell gebracht haben musste. Jetzt schien es mir möglich, dass wir mit dieser Axt das Deck über der Vorratskammer aufbrechen und uns so bequem mit Nahrung versehen könnten.
    Meine Gefährten brachen in ein mattes Freudengeschrei aus und eilten alle nach dem Vorderkastell.

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