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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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Aufschrift auf der Kiste einen strengen, unangenehmen und für meine Begriffe geradezu ekelerregenden Geruch ausströmte. Auf dem Deckel standen die Worte: »Frau Adelaide Curtis, Albany, New York. Gepäck von Cornelius Wyatt. Hier öffnen. Vorsicht!«
    Nun wusste ich, dass Frau Adelaide Curtis in Albany des Künstlers Schwiegermutter war; doch ich hielt die ganze Aufschrift für eine Mystifikation, durch die besonders ich irregeführt werden sollte. Ich sagte mir natürlich, dass die Kiste und ihr Inhalt nie weiter als bis ins Arbeitszimmer meines Freundes, des Misanthropen, in der Chamberstreet, New York, gelangen würden.
    Die ersten drei oder vier Tage hatten wir schönes Wetter, aber keinen Wind; wir hatten uns gleich beim Verlassen der Küste dem Norden zugewandt. Die Passagiere waren in heiterer Laune und geneigt, Bekanntschaften anzuknüpfen. Ich muss jedoch Wyatt und seine Schwestern ausnehmen, die sich zurückhaltend und den Mitreisenden gegenüber fast unhöflich benahmen. Wyatts Betragen beachtete ich weniger. Er war noch griesgrämiger als sonst – aber bei ihm war ich auf Übertriebenheiten gefasst. Für die Schwestern jedoch fand ich keine Entschuldigung. Sie zogen sich fast während der ganzen Dauer der Fahrt in ihre Kabinen zurück und weigerten sich, obgleich ich ihnen wiederholt zusetzte, mit irgendwem an Bord in Beziehung zu treten.
    Frau Wyatt selbst war weit liebenswürdiger, das heißt, sie war geschwätzig; und Geschwätzigkeit ist auf See keine schlechte Empfehlung. Sie wurde mit den meisten Damen ganz außerordentlich intim und bezeigte zu meiner tiefsten Verwunderung nicht wenig Lust, mit den Männern zu kokettieren. Sie amüsierte uns alle sehr. Ich sage, amüsierte – und weiß kaum, mich anders auszudrücken. In Wahrheit sah ich bald, dass man weit öfter über Frau Wyatt als mit ihr lachte. Die Männer sprachen wenig über sie; die Frauen aber nannten sie bald ein gutherziges, doch recht unbedeutendes und unerzogenes Ding – und sehr gewöhnlich. Es war ein Wunder, wie Wyatt eine solche Verbindung hatte eingehen können. Der zunächstliegende Gedanke wäre gewesen, dass es eine Geldheirat sei – aber ich wusste, diese Annahme war irrig; denn Wyatt hatte mir gesagt, dass sie ihm nicht einen Dollar mitgebracht, noch irgendwoher etwas zu erwarten hatte. Er habe, sagte er, aus Liebe und nur aus Liebe geheiratet; und seine Braut sei mehr als seiner Liebe würdig. Wenn ich an diese Äußerungen meines Freundes dachte, so schien mir die Lösung des Rätsels immer verhängnisvoller. Konnte es möglich sein, dass er daran war, den Verstand zu verlieren? Was sonst sollte ich annehmen? Er, der so empfindsam, so geistvoll, so wählerisch war, er, der einen so ausgesprochenen Abscheu vor allem Falschen, Unechten hatte und eine so starke Vorliebe für alles Schöne! Gewiss, sie war sehr eingenommen von ihm – besonders in seiner Abwesenheit – wo sie sich oft lächerlich machte durch die neugierige Frage, was ihr »geliebter Gatte, Herr Wyatt« gesagt habe. Das Wort »Gatte« schien ihr stets – um mit ihren eigenen beliebten Worten zu reden – »auf der Zunge zu liegen«. Indessen hatten alle an Bord bemerkt, dass er ihr auswich, so viel er konnte, und die meiste Zeit allein in seiner Kabine verbrachte; ja, man kann sagen, dass er fast ganz dort lebte, indem er seiner Frau alle Freiheit ließ, sich nach Wohlgefallen im großen Salon mit den anderen zu unterhalten. Meine Schlussfolgerung aus dem, was ich sah und hörte, war die: Der Künstler hatte aus irgendeiner Laune des Schicksals oder vielleicht in einem Anfall von Begeisterung und toller Leidenschaft die Dummheit begangen, sich mit einer weit unter ihm stehenden Person zu verbinden, und die natürliche Folge, Abscheu und Ekel, war nun eingetreten. Ich bemitleidete ihn aus tiefstem Herzen – konnte ihm aber aus jenem Grund doch nicht ganz seine Verschlossenheit in Sachen des »Heiligen Abendmahls« verzeihen. Hierfür beschloss ich Rache zu nehmen.
    Eines Tages, als er auf Deck kam, nahm ich ihn beim Arm und schritt mit ihm auf und ab. Er schien – wie ich das unter den vorliegenden Umständen auch nicht anders erwartete – in unverändert düsterer Stimmung. Er sprach nur wenig und missgelaunt und mit sichtlicher Anstrengung. Ich versuchte zu scherzen, und er machte einen schwachen Versuch zu einem Lächeln. Armer Kerl! Wenn ich an seine Frau dachte, verwunderte es mich geradezu, dass er es überhaupt bis zu dem Versuch eines

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