Gesammelte Werke
nichts weiter Raum, als für die allernötigsten Hilfsmittel, etwas Proviant und die Kleider, die wir trugen. Niemand hätte auch nur den Versuch gemacht, irgendetwas anderes zu retten. Man kann sich also das Erstaunen aller denken, als Herr Wyatt, nachdem wir uns ein paar Faden vom Schiff entfernt hatten, von der Bank aufstand und Kapitän Hardy kühl aufforderte, das Boot umkehren zu lassen, um seine längliche Kiste einzunehmen!
»Setzen Sie sich, Herr Wyatt«, erwiderte der Kapitän ziemlich streng; »Sie werden uns umwerfen, wenn Sie nicht ganz still sitzen. Unser Dollbord ist schon beinahe im Wasser.«
»Die Kiste!«, rief Herr Wyatt, der noch immer stand. »Die Kiste, sage ich! Kapitän Hardy, Sie können, Sie
werden
mir das nicht weigern! Das Gewicht ist eine Kleinigkeit, ein Nichts – wirklich ein Nichts. Bei dem Andenken Ihrer Mutter – bei der Liebe des Himmels – bei Ihrem Glauben – bei Ihrer Hoffnung auf die ewige Seligkeit
beschwöre
ich Sie, umzukehren und die Kiste zu holen!« Für einen Augenblick schien es, als sei der Kapitän von dem ernsten Ersuchen des Künstlers gerührt, aber er gewann seine strenge Haltung zurück und sagte nur:
»Herr Wyatt, Sie sind
toll
! Ich darf Ihnen nicht nachgeben. Setzen Sie sich hin, sage ich, oder Sie werden das Boot zum Kentern bringen. Halt – haltet ihn – greift ihn! Er springt über Bord! Da – ich wusste es, es ist geschehen!«
Bei diesen Worten des Kapitäns war Herr Wyatt tatsächlich über Bord gesprungen; wir befanden uns gerade leewärts vom Wrack, und seinen beinahe übermenschlichen Anstrengungen gelang es, ein Seil zu erfassen, das an der Bordwand herabhing. Einen Moment darauf war er an Bord und stürzte wie rasend in die Kabine hinunter.
Inzwischen waren wir hinter das Schiff und von der Leeseite abgetrieben worden und sahen uns nun ganz dem ungeheuer stürmenden Meer überlassen. Mit letzter Anstrengung versuchten wir zurückzukommen, aber unser kleines Boot war in dem Wüten des Sturms nur wie eine winzige Feder. Wir übersahen mit einem Blick, dass das Schicksal des Künstlers besiegelt war. Als unsere Entfernung vom Wrack schnell zunahm, sahen wir, dass der Rasende (denn dafür mussten wir ihn halten) die Kajütentreppe heraufkam; mit gigantischer Kraft schleppte er die längliche Kiste mit sich. Während wir in maßlosem Erstaunen hinblickten, ergriff er ein drei Zoll dickes Seil, schlang es um die Kiste und dann um seinen Leib. Im nächsten Augenblick waren beide, Mensch und Kiste, im Meer; sie verschwanden sofort und für immer.
Wir stoppten trostlos die Ruder, und unsere Augen hingen an der Stelle, wo der Mann versunken war. Schließlich ruderten wir fort.
Eine Stunde lang herrschte völliges Schweigen. Endlich wagte ich eine Bemerkung.
»Haben Sie beobachtet, Kapitän, wie plötzlich sie sanken? War das nicht äußerst merkwürdig? Ich gestehe, dass ich ein wenig Hoffnung auf seine Rettung hatte, als ich sah, dass er sich an die Kiste band und dem Meer anvertraute.«
»Sie
mussten
sinken«, erwiderte der Kapitän, »und schnell wie ein Schuss. Sie werden aber bald wieder auftauchen, allerdings nicht eher, als bis das Salz sich auflöst.«
»Das Salz?«, rief ich aus.
»Still!«, sagte der Kapitän, auf Wyatts Frau und Schwestern deutend. »Wir müssen zu gelegenerer Zeit von diesen Dingen reden.«
Wir hatten viel zu erdulden und kamen kaum mit dem Leben davon; doch das Glück war uns günstig, uns wie auch den Kameraden im Langboot. Wir landeten endlich nach vier verzweifelten Tagen mehr tot als lebendig an der Küste gegenüber der Roanoke-Insel. Hier blieben wir eine Woche, wurden von den Stranddieben leidlich gut aufgenommen, und es glückte uns schließlich, eine Überfahrt nach New York zu erlangen.
Etwa einen Monat nach dem Untergang der »Unabhängigkeit« begegnete ich zufällig dem Kapitän Hardy auf dem Broadway. Unsere Unterhaltung drehte sich natürlich um das Unglück und besonders um das traurige Schicksal des armen Wyatt. Danach erfuhr ich folgende Einzelheiten:
Der Künstler hatte für sich, seine Frau, seine zwei Schwestern und eine Dienerin die Überfahrt belegt. Sein Weib war tatsächlich, wie man sie mir geschildert hatte, eine liebreizende und gebildete Frau. Am Morgen des vierzehnten Juni (dem Tag, an dem ich zum ersten Mal das Schiff besuchte) erkrankte die Dame plötzlich und starb. Der junge Gatte raste vor Schmerz – zwingende Gründe aber erforderten seine sofortige Abreise nach New York. Es
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