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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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niedergelassen, um den Ausgang des Tals zu verbarrikadieren. Aus seinem grauen Felsenleib entsprang der Wildbach in halber Höhe als Wasserfall, ein weißes Band, das sich herabstürzend in mehrere schaumige Fäden zerfaserte und am Fuß des Felsens in einen runden Quelltopf rieselte.
    Was hatte Aladion gemurmelt? Die Quelle wurde bewacht? Darion hatte vermutet, dass der Alte damit die Quellnymphe meinte, die an diesem Ort lebte und das Gewässer beschützte. Aber vor einer solchen Nymphe musste sich niemand in Acht nehmen – im Gegenteil: Diese Wassermädchen waren lieblich anzusehen, und die einzige Gefahr, die von ihnen ausging, bestand in ihrer weiblichen Anziehungskraft. So mancher junge Kerl, gleich ob Mensch oder Geist, hatte schon länger als geplant an solch einer Quelle verweilt, was jedoch keinem je ernsthaft geschadet hatte. Ganz im Gegenteil: Man erinnerte sich gern an diese Zeit.
    Es ist eine heilende Quelle, dachte er, während er mit den Wolken landeinwärts zog und sich dann einer Nebelbank anschloss, die seitlich der Klamm an einem Bergrücken klebte. Möglich, dass die Quellnymphe eines so besonderen Gewässers eine wehrhafte Person ist und nicht jeden dahergelaufenen Gauner mit ihrem kostbaren Nass bedient.
    Darions Vorsicht zahlte sich aus. Getarnt von den aufsteigenden Nebeln stieg er über den Bergrücken und entdeckte gleich neben dem runden Quelltopf zwei Schatten. Sie wirkten recht harmlos, verborgen unter den dichten Zweigen einer Fichte, doch er erkannte die gewappneten Krieger des Herrn der Nachtschatten. Sie hielten sich nicht als Gäste hier an der Quelle auf, sonst hätten sie ihre Schwerter abgelegt, wie es an einem solchen Ort Brauch war. Sie hockten dicht am Fels, in den Schatten der Fichtenzweige zurückgezogen, und starrten mit schmalen Augen ins Tal, bemühten sich auch, hin und wieder die Berghänge abzusuchen, wobei sie ihre schmerzenden Augen mit den Händen beschatteten.
    Gorian ließ die heilende Quelle bewachen! Weshalb? Seit alters her war es die Aufgabe der Nymphen und Elben, solche Quellen zu hüten und sie jedem, der Hilfe brauchte, zugänglich zu machen. Doch wie es schien, war es jetzt der Herr der Nachtschatten, der entschied, wem die Quelle Heilung bringen durfte.
    Hatte der nächtliche Kampf sich bereits herumgesprochen? Waren vielleicht sogar einige seiner angeschlagenen Gegner im Morgengrauen hierhergeflogen, um ihre Wunden zu behandeln? Dann wäre es wenig ratsam, sich dem Quelltopf zu nähern. Auf der anderen Seite brauchte Darion das heilende Wasser für Aladion.
    Die Nebel hoben sich jetzt ziemlich rasch. Er beschloss, in aller Vorsicht oben auf dem mächtigen Felsbrocken zu landen, aus dem die Quelle entsprang, und sich von dort aus zum Wasserfall hinabzulassen. Das gleißende schäumende Wasserband bereitete den Nachtschattenaugen ziemliche Schmerzen, sodass anzunehmen war, dass die beiden Aufpasser nur selten dort hinaufschauten. Und selbst wenn sie es taten, tränten ihnen die Augen so heftig, dass sie kaum etwas sehen konnten. Das Glück war Darion hold, denn als er sich wie ein schmaler grauer Schatten in eine Felsnische schmiegte und schon grübelte, wie und in welcher Form er nun zum Wasserfall hinabsinken konnte, vernahm er ein Flüstern.
    »Es ist Aladion, der dich schickt, nicht wahr?«
    Es war die Quellnymphe, die Gorian hier oben auf dem Felsen zu einem einsamen Höhlendasein verdammt hatte, fern von dem Wasserbecken, in dem sie früher in mondhellen Nächten badete. Sie war schön wie alle Nymphen, doch ihr Haar wirkte glanzlos und ihre Haut blass, wie bei einem Wesen, das seiner Bestimmung beraubt worden war und nun kummervoll dahinsiechte.
    »Woher weißt du das?«, fragte er zurück.
    »Ich weiß es. Ich spüre, dass das Leben aus ihm weicht.«
    »Dann hilf uns, Nymphe! Bitte!«
    Sie lächelte müde und blickte zu ihrem Wasserfall hinunter. Ihr Blick mutete zärtlich an, wie eine Frau ihren Geliebten betrachtet, wie eine Mutter nach ihrem Kind schaut.
    »Ich kann ihm für eine Weile Heilung bieten«, erwiderte sie leise, so als redete sie gar nicht mit Darion, sondern mit sich selbst. »Aber dennoch ist sein Ende nicht mehr weit.«
    Darion staunte und fragte sich, in welchem Verhältnis die beiden wohl zueinander standen. Der alte Abtrünnige und die schöne Quellnymphe – sie schienen einander schon lange zu kennen.
    »Wir alle müssen einmal sterben und vergehen«, murmelte er. »So wie auch die Menschen, die ein so viel kürzeres Dasein

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