Gesang der Daemmerung
vielleicht für eine Zeitung?«
»Nicht dass ich wüsste …«
Marian war wenig erfreut, Kate und vor allen Dingen Vetter George wiederzusehen, denn sie mochte nicht an die verwirrenden Ereignisse bei Kates Eltern erinnert werden. Auf keinen Fall sollte dieser Verrückte ihr etwas von Lichtelben und ähnlichen Dingen erzählen, sie wollte nichts davon hören! Vielleicht gab es sie ja, diese andere Welt, die Sphäre der Geister und Schattenwesen. Es war sogar ziemlich sicher, dass sie existierte, aber sie, Marian Lethaby, gehörte nicht dorthin. Ganz einfach deshalb, weil es dort drüben boshafte, treulose Schattengeister gab, mit denen sie auf keinen Fall noch einmal zusammentreffen wollte.
Von Professor Sereno war im Konzertraum nichts zu sehen, doch man wusste, dass er oben in seinem privaten Übungszimmer einigen der jungen Sänger letzte Anweisungen erteilte. Juliette und Marian standen allerdings nicht auf seinem Plan, daher war Marian überrascht, als eines der Dienstmädchen sie gegen Mittag nach oben rief.
Als sie die Treppe hinaufging, fiel ihr das Buch wieder ein, das sie heimlich aus seinem Archiv genommen hatte und das mitsamt ihrem zärtlichen Darion verschwunden war. Aber woher sollte Sereno wissen, dass sie die Diebin war? Niemand hatte sie gesehen. Niemand außer Jonathan Mills …
Zu allem Überfluss begegnete sie Lillian und Elisabeth im Flur, die beide heute Abend nicht auftreten durften und Marian mit neidischen Blicken bedachten.
»Na, bist du schon aufgeregt? Einer meiner besten Freundinnen ist ja vor Lampenfieber die Stimme weggeblieben, sie bekam keinen Ton heraus, als sie auf der Bühne stand …«
»Aber das wird dir ja gewiss nicht passieren, meine Liebe. Nur keine Angst, sing mutig drauflos, und achte nicht darauf, dass die Akustik im vollen Saal eine ganz andere sein wird! So richtig dumpf und trocken wird die Stimme klingen …«
Beide erklärten sich bereit, ihr nach altem Brauch über die linke Schulter zu spucken und »Toi, toi, toi« zu wünschen. Marian lehnte diese Liebestat höflich, aber bestimmt ab und drängte sich an den beiden neidischen Schnepfen vorbei, die Treppe hinauf. Als sie vor den weißen Flügeltüren stand, klopfte ihr Herz so unruhig, dass sie einen Moment warten musste, bevor sie eintrat.
Sereno erschien ihr fahrig, das Gesicht gerötet, die Augenlider geschwollen, als hätte er schlecht geschlafen. Er ist mindestens so aufgeregt wie seine Schüler, dachte sie. Es muss schlimm für ihn sein, den Vorträgen seiner Schäfchen zuzuhören, die Fehler zu registrieren und doch nichts mehr daran ändern zu können.
»Sie wollten mich sprechen, Mr. Sereno.«
Er saß wie üblich hinter seinem Flügel, doch statt versonnen ein paar Akkorde anzuschlagen, wie er es sonst gern tat, lagen seine Hände untätig auf den Knien.
»Marian«, begann er mit dumpfer Stimme, »du wirst heute Abend nicht auftreten.«
Sie erstarrte. Wie hinterhältig er doch war! Zuerst erlaubte er ihr den Auftritt, und jetzt, kurz bevor es losging, machte er einen Rückzieher! Du liebe Güte – inzwischen lag ihr ja gar nicht mehr so viel daran, aber es passte ihr nicht, sich so behandeln zu lassen!
»Aus welchem Grund, Mr. Sereno?«
Sein Blick flackerte für einen Augenblick, die rechte Hand spielte einen leisen dissonanten Akkord, der wie ein beklommener Seufzer klang.
»Weil deine Leistungen nicht ausreichen.«
Das war mehr als ungerecht, und er wusste es. Marian spürte, wie der Zorn in ihr aufstieg.
»Mein Name steht auf dem Programm, Mr. Sereno. Was wollen Sie dem Publikum erzählen?«
»Das ist meine Sache!«
Sie stand aufrecht vor ihm, der Zorn blitzte in ihren Augen, sie hatte sogar die Fäuste geballt, was er jedoch nicht sehen konnte, denn die Rockfalten verbargen ihre Hände.
»Ich werde singen, Mr. Sereno! Niemand hält mich davon ab, auch Sie nicht!«
Es klang viel entschlossener, als sie selbst es für möglich gehalten hätte, und sie bemerkte sofort, dass Sereno beeindruckt war.
»Ich habe wichtige Gründe dafür, Marian …«
»Und welche sind das?«
Er wand sich und redete allerlei Unsinn, sie hätte zu wenig Erfahrung, sänge zu unbefangen daher, er müsste sie vor der unbarmherzigen Kritik der Fachleute bewahren. In seinem Bemühen, plausible Gründe für sein Verbot zu erfinden, erschien er Marian so verzweifelt, dass sie fast Mitleid mit ihm bekam. Von dem Buch sagte er kein Wort – also hatte er auch nichts mitbekommen.
»Ich bitte dich herzlich darum,
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