Gesang der Daemmerung
Marian! Ich bitte dich als dein Lehrer und dein Freund …«
Sie wurde weich, da er tatsächlich krank zu sein schien. Weshalb sonst war er so blass und seine Stirn voller Schweißperlen? War es die Sache wert, so hart zu bleiben? Im Grunde war es ihr doch egal, ob sie heute Abend auftrat oder erst in einigen Wochen zu Ostern in einer Kirche sang.
»Na schön«, lenkte sie ein. »Aber ich kann nur die Arie absagen, nicht das Duett. Das kann ich Juliette nicht antun.«
In diesem Punkt blieb sie standhaft, obgleich Sereno vorschlug, eine andere Schülerin einspringen zu lassen. Nein, sie hatte dieses Duett mit Juliette geprobt, sie waren aufeinander eingesungen, eine Umbesetzung kurz vor dem Auftritt kam nicht infrage.
Missgelaunt ging sie wieder nach unten und verbrachte die Zeit bis zum Abend in ihrem Zimmer. Sie fühlte sich unzufrieden und ungerecht behandelt, zugleich aber hatte sie kein reines Gewissen, wenn sie an das entwendete Buch dachte. Traurig lag sie auf ihrem Bett ausgestreckt und dachte daran, mit wie viel Neugier und Begeisterung sie vor einigen Monaten diese Ausbildung begonnen hatte. Jetzt hatte sie das Gefühl, einen falschen Weg eingeschlagen zu haben, den sie eigentlich verlassen sollte.
Es ist Darion, dachte sie unglücklich. Ich habe einfach nur Liebeskummer, und deshalb erscheint mir alles, was ich tue, in düsteren Farben.
Ihr Blick fing ein kleines Licht ein, das irgendwo zwischen den Büchern auf dem Tisch aufblitzte und gleich darauf wieder verschwand. Richtig, dort lag die Phiole, die sie gestern Abend vom Hals genommen hatte. Dieses seltsame Amulett, das Darion ihr nicht hatte geben wollen und das sie später vor ihrer Tür auf dem Boden fand. Gefüllt mit einer Flüssigkeit, die schäumen und glühen konnte.
Nachdenklich stand sie auf und nahm die kleine Flasche in die Hand. Die Flüssigkeit darin blieb klar und still, doch als sie die Phiole auf ihre Handfläche legte, ging ein sanfter Schimmer von dem Amulett aus. Sie musterte das zerrissene Band, das sie so kunstvoll wieder zusammengeknotet hatte, und schob einen beständig bohrenden Gedanken beiseite. Nein, Darion war nicht von irgendeiner dunklen Macht gezwungen worden, sie zu verlassen. Er war einfach ein unsteter Geist, der sich einmal hier, einmal dort herumtrieb. Eigentlich sollte sie dieses Amulett fortwerfen, damit sie endgültig von dieser unglücklichen Liebe frei wurde.
Doch je länger sie auf das schimmernde Glas in ihrer Hand blickte, desto stärker spürte sie die Magie dieser klaren Flüssigkeit und begriff, dass sie sich niemals davon trennen würde. Die Phiole strahlte bis tief in ihr Herz hinein und füllte es mit einem warmen stolzen Empfinden. Dieses Amulett mochte an Darions Hals gehangen haben, in Wirklichkeit jedoch gehörte es ihr, genau wie das Buch, das sie aus dem Archiv genommen hatte. Er hatte ihr den Folianten gestohlen – diese kostbare Phiole aber war ihr geblieben.
»Miss Lethaby?«
Die Stimme des Dienstmädchens riss sie rüde aus ihrer traumähnlichen Stimmung. »Miss Juliette lässt fragen, ob Sie schon angezogen sind. Sie wartet unten auf Sie.«
»Ich … ich komme. Einen kleinen Augenblick noch, bitte …«
Erschrocken schob Marian den Fenstervorhang beiseite und stellte fest, dass es draußen schon vollkommen dunkel war – wo war die Zeit geblieben? Gedämpfte Stimmen drangen zu ihr hinauf, Gespräche, Gelächter, das Geräusch von Absätzen auf dem Steinfußboden der Halle. Waren das schon die Konzertbesucher, die dort Mäntel und Hüte ließen, bevor sie in den Saal gingen?
Nun – sie würde Juliette nicht enttäuschen. Hastig knöpfte sie ihr Kleid auf, zögerte einen Moment und entschloss sich dann doch, Kates cremefarbenes Gewand anzuziehen. Warum eigentlich nicht, die Freundin würde unter den Zuschauern sitzen und sich ganz sicher darüber freuen. Als sie einen letzten prüfenden Blick in den schmalen Wandspiegel warf, stellte sie fest, dass sie das Amulett um den Hals trug, obgleich sie sich nicht daran erinnern konnte, es umgehängt zu haben. Es sah wundervoll aus, fast wie ein geschliffener Edelstein, der im Licht alle Farben des Spektrums versprühte.
Die »Phiole der Elbenkönigin« hatte Vetter George das Amulett genannt – was mochte er wohl damit gemeint haben? Es blieb ihr keine Muße, darüber nachzugrübeln, denn jetzt klopfte schon Juliette an ihre Zimmertür.
»Kommst du, Marian? Unten ist schon ein fürchterliches Gedränge. Alle Plätze sind besetzt, es
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