Gesang der Daemmerung
Serenos Augen las Marian die blanke Angst.
Sie stellten sich vor dem Flügel auf und verneigten sich höflich zur Begrüßung des Publikums. Marian lächelte dem jungen Pianisten zu, um anzudeuten, dass sie bereit wäre, nahm Blickkontakt zu Juliette auf, die jetzt vollkommen konzentriert wirkte – man konnte beginnen. Die ersten Klänge der Begleitung klangen recht unbeteiligt, der junge Pianist spielte bereits seit fast zwei Stunden ein Stück nach dem anderen und sehnte sich nach dem Ende des Konzerts. Als jedoch Marian zu singen begann, riss der Zauber ihrer Stimme auch ihn aus der Lethargie.
Das Duett entstammte der Oper »Orfeo et Euridice« von Christoph Willibald Gluck, eine dramatische Szene, in der Orpheus sehnsuchtsvoll versucht, seine Geliebte aus dem Schattenreich ans Licht zurückzuführen. Als Euridice das Gebot der Götter übertritt und sich zu ihm umwendet, ist alle Hoffnung dahin, und Orpheus wird Opfer seiner Verzweiflung.
Marian sang die Partie des unglücklichen Orpheus mit großem Ernst, spürte doch auch sie tief in ihrem Inneren die Sehnsucht nach einem Wesen, das in eine andere Welt entschwunden war. Zugleich aber erfasste ihr Blick die Gesichter der Zuhörer, schweifte von einem zum anderen und entdeckte Befremdliches. Dort war Vetter George im karierten Anzug, doch neben ihm saß nicht Kate, sondern Mrs. Crincle, die im Licht der vielen Kerzen ungewöhnlich jung und geradezu lieblich erschien. Nicht weit von ihnen befand sich auch ihr Ehemann, Mr. Crincle – kaum zu erkennen mit diesem dunkelblonden wuchernden Backenbart, doch erstaunlicherweise ganz und gar wie ein Gentleman gekleidet. Woher mochte er die Mittel für eine so teure Garderobe genommen haben? Marians Blicke wurden endlich von einem Mann angezogen, der im hinteren Bereich der Stuhlreihen Platz genommen hatte. Niemand hätte an diesem stämmigen schnurrbärtigen Menschen etwas Ungewöhnliches feststellen können, und doch überlief sie bei seinem Anblick ein Zittern. Er saß zurückgelehnt, die Arme auf die Lehnen gestützt, hatte den Kopf erhoben und verfolgte das Geschehen vorn am Flügel mit großer Aufmerksamkeit. Lag es daran, dass sie wie Orpheus in die Welt der Schatten eingetreten war? Marian glaubte wahrzunehmen, wie hinter der aufmerksamen Miene dieses Zuhörers ein zweites Gesicht auftauchte, als hätte sich die wahre Person von ihrer Maske gelöst. Das mondbleiche Antlitz dieses Wesens war schmal, rechts und links des Mundes hatten sich zwei tiefe senkrechte Furchen eingegraben, und die bläulich umschatteten Augen waren mit lauerndem Blick auf sie gerichtet. Es glich einem Raubtier, das auf den rechten Augenblick wartet, um zum tödlichen Sprung auf sein Opfer anzusetzen.
»Komm, Geliebte!«, sang Orpheus. »Komm, und folge mir …«
»Nein, das kann ich nicht …«, sang Juliette.
»Folge mir …«, flehte Orpheus. »Zwischen Licht und Schatten liegt der Ort unserer Liebe. Zwischen dem leuchtenden Wasser und der dunklen Erde. Zwischen den blitzenden Sternen und dem schwarzen Himmelssamt. Folge mir dorthin, Geliebte …«
War sie aus ihrer Rolle gefallen? Nur für wenige Sekunden sang sie Worte und Töne, die nicht aus der Feder des Komponisten stammten und sich doch vollkommen seiner Musik anpassten. Der Pianist hielt für einige Sekunden inne, lauschte wie gebannt und lächelte dabei, als vernähme er himmlische Weisen. Dann, als sie wieder in ihre Partie zurückfand, fuhr auch er mit der Begleitung fort. Eine kleine Ausschmückung, eine Kadenz, wie sie damals gern gesungen wurde – niemand fand etwas dabei, nur Juliette blickte leicht irritiert zu Marian hinüber. Sie starrte auf das Amulett an deren Hals, das für wenige Sekunden eine tiefrote Farbe angenommen hatte.
Sie ernteten frenetischen Applaus, die Stimme der zarten blonden Sängerin hatte alle Zuhörer in ihren Bann geschlagen. Wie ein silberner Fluss strömte sie dahin, leicht und doch voll, metallisch und weich zugleich, eine Quelle unendlicher Schönheit, der man ewig lauschen wollte. Ein Leben lang, viele Leben, bis ans Ende der Zeit.
»Das war großartig!«, flüsterte Juliette überglücklich, als sie durch den Flur ins Übungszimmer zurückliefen.
Marian konnte nicht antworten. In ihrem Kopf dröhnte und hämmerte es, eine Glocke schrillte ungeheuer laut, sodass ihr schwindelig wurde und sie sich gegen die Wand lehnen musste.
»Gute Güte!«, hörte sie Juliette mitleidig ausrufen. »Trink rasch einen Schluck Wasser, Mary! Wie
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