Gesang der Daemmerung
»Schlaf und vergiss alle Schrecken, vergiss die schlimmen Schatten, vergiss auch deinen eigenen zornigen Gesang! Nichts ist geschehen, es waren nur schwere Träume, die dich gequält haben. Wenn du aus dem Schlaf erwachst, werden sie aus deiner Erinnerung verschwunden sein und dir nicht mehr wehtun.«
Die leisen Worte klangen wie eine zärtliche Beschwörung, und Marian gab sich ihnen bereitwillig hin, schon deshalb, weil sie immer noch vollkommen erschöpft war. Ohne Gegenwehr ließ sie sich von ihm aufheben und davontragen. Sie vernahm das Gekicher der Nebelfrauen, spürte wohl auch ihre feuchten kitzelnden Körper über sich hinwegstreichen, doch diese Berührungen waren sanft. Wie es schien, gaben die Damen ihnen den Weg frei.
Marians Schlaf war unruhig und voller erschreckender Bilder. Das schmale bleiche Gesicht ihres Entführers hing statt des Mondes am nächtlichen Himmel, schwarze Gestalten mit gezückten Schwertern wirbelten umher und löschten alle Sterne aus. Sie sah Professor Sereno in einem reißenden Gewässer vorübertreiben, er klammerte sich an ein Buch, das ihm immer wieder entglitt. Zuletzt erblickte sie eine felsige Schlucht voller Geröll und abgestorbener Baumstämme, die die Hitze mit vielen Rissen durchzogen und hell ausgebleicht hatte. Es war merkwürdig, dass gerade dieser Anblick sie so bekümmerte, denn dort geschah nichts Schlimmes oder Bedrohliches – es herrschte vollkommene Stille. Nur die toten Äste, die sich wie verkrümmte Arme und Beine nach oben reckten, schauten ein wenig unheimlich aus, und einmal sah sie zwei graue Raubvögel über die Schlucht hinwegstreichen. Sie machten keine Anstalten zu landen, denn dort unten fing sich die Sonne wie in einem Kessel, und die Hitze ließ die aufsteigende Luft flimmern.
Hin und wieder verließ sie das Reich der Bilder, dann öffnete sie blinzelnd ihre Augen und erblickte das Innere einer Kutsche, ganz mit dunkelrotem Brokatstoff ausgeschlagen. Sie lag mit angezogenen Beinen auf dem Sitz, ein weiches Kissen stützte ihren Kopf, eine gefütterte Decke, an deren Ecken jeweils eine dicke Quaste befestigt war, wärmte ihren Körper. Schlaftrunken richtete sie sich ein wenig auf und schob den Fenstervorhang beiseite, sah Schneeflocken vorüberwehen, dahinter weiß verschneite Hügel, niedrige Häuschen, kleine Mauern aus aufgeschichteten Feldsteinen, kahle Bäume, auf denen die Krähen hockten. Wo befanden sie sich? Wohin brachte er sie? War das die Geisterwelt oder die andere, die Welt der Menschen? Manchmal warf sie noch einen kurzen Blick zum Rückfenster hin, das winzig klein war und nur die Schäfte zweier Lederstiefel sehen ließ. Gehörten sie Darion? Waren es die gleichen Stiefel, deren Tritte sie unter der Brücke vernommen hatte?
Marian war zu müde, um länger über diese Frage nachzudenken, und noch viel weniger hatte sie Lust, sich aufzusetzen, um herauszufinden, wer diesen Wagen kutschierte und wohin die Fahrt ging. Stattdessen sank sie auf ihr bequemes Kissen zurück, zog die wattierte Decke zurecht und gab sich dem Schwanken und Rattern der Kutsche hin, das so wundervoll einschläfernd wirkte.
»Was ist mit ihr? Ist sie krank? Bewusstlos?«
Das war Mrs. Crincles Stimme, die aufgeregt und sehr besorgt klang. Jemand trug sie auf den Armen, es war ein angenehmes schwebendes Gefühl. Marian öffnete die Augen einen winzigen Spalt und sah Darions Kinnpartie und seinen Hals. Dann, als er zu ihr hinunterschaute, nahm sie wahr, dass er grinste.
»Unsere Prinzessin ist müde, das ist alles. Der Herr der Nachtschatten hat sie mit einem Zauber betäubt. Sie wird noch ein Weilchen schlafen, dann ist sie davon frei …«
»All das ist unsere Schuld«, seufzte jemand, dessen Stimme ihr ebenfalls bekannt vorkam. »Wir haben zugelassen, dass Sereno sie in seine Villa zurückbrachte, wir waren zu träge und zu feige, um uns ihm entgegenzustellen.«
Konnte es sein, dass Kates Vetter George hier war? Befand sie sich etwa im Haus der Feathers? Sie wandte den Kopf zur Seite und erblickte einen geschnitzten Schrank, daneben mehrere Bilder, die ihr vertraut waren, ebenso wie die hellgrüne Tapete und die hohen Fenstervorhänge aus grünem bedrucktem Leinen. Dort die Bleistiftstriche auf der Tapete, die der Vorhang halb verdeckte, die damals ihr Vater gezogen hatte. Am Neujahrstag hatte sie sich immer dorthin stellen müssen, damit er nachmessen konnte, wie viel sie im vergangenen Jahr gewachsen war …
»Vergiss das alles, Ansur! Wir sind
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