Gesang der Daemmerung
Bündel Eichenzweige gehörte. Diese drei waren klaglos bereit, jede Mühsal auf sich zu nehmen, jede Not zu leiden, ja sogar ihr Leben für das ihrer Königin hinzugeben.
Eine lange Woche waren sie nun schon unterwegs, doch statt freudig und voller Stolz ihre Aufgabe anzugehen, verfiel Marian täglich mehr dem Kummer und fragte sich bald, weshalb das Schicksal gerade ihr, Marian Lethaby, eine solch hehre Mission abforderte. Ausgerechnet sie musste Eolins Stimme geerbt haben, und noch dazu schienen tief in ihrer Erinnerung die Lieder der längst verstorbenen Elbenkönigin zu schlummern. Nur hin und wieder stiegen sie auf, meist ohne dass es ihr selbst bewusst war, dann aber konnte sie Überschwemmungen hervorrufen und Stürme in Wassergläsern verursachen. Angeblich konnte sie auch eine Quelle aus dem Felsen springen lassen, die ein ganz besonderes Wasser führte: das Wasser des ewigen Lebens.
Marian seufzte und bewegte die klammen Finger in ihrem Muff, während Sereno wieder einmal das Fenster herunterschob, um sich hinauszubeugen.
»Immer noch nichts zu sehen?«, brüllte er nach draußen.
»Berge am Horizont, Mr. Sereno.«
»Na also!«, stieß er aufatmend aus und ließ sich in den Sitz zurückfallen, ohne sich die Mühe zu machen, das Fenster wieder zu schließen. »Es kann nicht mehr lange dauern.«
Marian schloss wieder die Augen und fragte sich, wie sie bei diesen vertrackten Kopfschmerzen überhaupt würde singen können. Aber sie würde es tun, sie musste. Schon um der vielen liebenswerten Lichtelben willen, die sich so hoffnungsfroh auf Maygarden eingefunden hatten. Sie, Marian Lethaby, war die neue Königin, die in dem verlorenen Elbenbuch vorausgesagt wurde und die die Quelle des ewigen Lebens wieder zum Sprudeln bringen, Eolins Reich wiedererstehen lassen würde.
Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass ihr persönlich nicht allzu viel daran lag, dieses dubiose Elbenreich wieder ins Leben zu rufen, zumal ihr völlig unklar war, wo es überhaupt liegen sollte. Außerdem schienen die Feinde der Lichtelben sozusagen schon Schlange zu stehen, um die Quelle des ewigen Lebens für sich zu beanspruchen.
Da war zu allererst dieser scheußliche Nachtschattenherrscher Gorian, der versucht hatte, sie zu entführen. Dann aber leider auch Aladion, der Abtrünnige, über den Vetter George ihr schreckliche Dinge erzählt hatte. Gewiss besaß auch Professor Sereno ein sehr egoistisches Interesse an dieser Quelle. Vor allem aber Darion. Darion, ihr Geliebter, der sie zum wiederholten Mal belogen und getäuscht hatte. Der ihr die Wahrheit über ihre Eltern und die Quelle des Lebens verschwieg und auch den Lichtelben auf Maygarden verboten hatte, mit ihr darüber zu sprechen. Sie hatten einen langen und bösen Streit miteinander ausgefochten, denn er hatte behauptet, all dies nur aus Liebe zu ihr getan zu haben. Er hätte sie schützen wollen. An einen Ort bringen, wo sie beide unbehelligt miteinander leben konnten.
»Wolltest du mich im Käfig halten wie ein hübsches Vögelchen, mir die Flügel beschneiden und ein Tuch über den Käfig werfen, wenn ich zu laut singe?«
»So hör mir doch zu, Marian!«
»Ich habe dir schon viel zu lange zugehört!«
Nach allem, was er ihr bereits erzählt und vor allem verschwiegen hatte, konnte sie ihm kein einziges Wort glauben. Der Gedanke tat weh, aber sie musste sich daran gewöhnen: Auch Darion war auf seine ganz spezielle Weise hinter der Quelle des ewigen Lebens her.
»Morgen um diese Zeit werden wir das Gebirge erreicht haben«, sagte Sereno und schob geräuschvoll das Fenster zu. »Dann wirst du dich ganz sicher erinnern, Marian. Du musst dich erinnern, hörst du?«
»Ich werde es versuchen, Mr. Sereno«, gab sie zurück, damit er sie endlich in Ruhe ließ.
Hatte er nicht behauptet, in dem alten Folianten gelesen zu haben, wo sich die Quelle einst befand? Wieso verlangte er dann ständig, sie müsste sich erinnern? Bitter stieß es ihr nun wieder auf, dass dieses kostbare Buch, das ein Nachkomme der Elbenkönigin einst verfasst hatte, durch Darions Unachtsamkeit verloren gegangen war. Auch in diesem Punkt hatte er sie angelogen: Er hatte es nicht – wie behauptet – in Serenos Archiv zurückgetragen, sondern bei irgendwelchen dubiosen Kämpfen ins Meer fallen lassen. Hatte er das absichtlich getan? Damit sie die Botschaft ihres elbischen Vorfahren nicht zu lesen bekam? Ja, das passte ins Bild. Egoistisch und respektlos hatte er dieses wertvolle
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