Gesang der Daemmerung
ein paar Jahren schon könnte deine Stimme heiser und abgesungen sein. Dann ist es gut, ein paar Übungen zu kennen …«
Elisabeth war eine lebhafte Person, die ihre dunkelbraune lockige Haarpracht recht hübsch um das rundliche Gesicht frisierte. Nur die ein wenig schräg stehenden Augen gefielen Marian nicht. Elisabeth konnte bezaubern, wenn sie wollte, sie konnte aber auch ungemein boshaft sein.
»Ja, Marian wurde als Primadonna geboren«, mischte sich auch Lillian ins Gespräch. »Unser kleines Engelsköpfchen braucht sich nicht wie wir mit Übungen zu plagen – sie singt einfach, wie es ihr in die Wiege gelegt wurde …«
Auch die goldblonde, blauäugige Lillian, die so harmlos und naiv dreinschaute, konnte ziemlich gemein sein – sie und Elisabeth hielten meist zusammen, was wohl hauptsächlich daran lag, dass Sereno keine von beiden besonders begünstigte.
»Eine Stimme wie flüssiges Silber – und das durch alle Register! Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf«, säuselte Lillian und warf Elisabeth einen bedeutsamen Blick zu. Diese zuckte mit den Schultern und blickte Marian gönnerhaft an.
»Nun ja – wenn es nur darauf ankäme … Du wirst bald erfahren müssen, meine arme Marian, dass weit mehr als Musikalität und Stimme nötig sind, um als Sängerin Erfolg zu haben.«
Sie hatte Marians Stimme, die in allen Lagen schön und voll klang, einmal als »charakterlos« bezeichnet. Sie konnte Altpartien ebenso überzeugend wie Sopranpartien singen, schwang sich leuchtend in die höchsten Höhen, hatte aber auch in der Mittellage keine Mühe und verfügte über eine warme, angenehme Tiefe.
»Du hast eine Allerweltsstimme, meine Liebe. Man weiß gar nicht so recht, wo man dich einordnen soll …«
Den offenen und versteckten Bosheiten dieser jungen Frauen war schwer zu begegnen. Sie wurden mit scheinheiligem Lächeln und herablassender Freundlichkeit vorgetragen, und wenn Marian sich dagegen verwahrte, taten beide erstaunt und erklärten, keinerlei verletzende Absicht gehegt zu haben. Sie wäre noch neu hier, deshalb wollte man darüber hinwegsehen, aber diese Empfindlichkeiten müsste sie sich abgewöhnen.
Marian hatte schon nach wenigen Tagen beschlossen, sich von ihren Mitbewohnerinnen so weit wie möglich fernzuhalten. Doch außer ihnen gab es niemanden im Haus, mit dem sie sich hätte unterhalten können. Professor Sereno bewohnte die oberen Etagen und ließ sich außerhalb des Unterrichts niemals bei ihnen blicken. Er nahm auch die Mahlzeiten allein ein. Das war verständlich, schließlich verbrachte er genügend Zeit mit seinen Schülern, und darüber hinaus wäre es unschicklich gewesen, hätte er mit den im Haus logierenden jungen Schülerinnen privaten Kontakt gepflegt.
Mrs. Waterfield, die Wirtschafterin, war viel zu sehr mit ihren Obliegenheiten beschäftigt, um sich auf längere Gespräche mit den Logiergästen einzulassen. Sie war eine schmale Frau, deren Alter man schwer einschätzen konnte, aber vermutlich war sie schon über fünfzig, denn unter ihrer weißen Haube schauten graue Haarsträhnen heraus, die sie immer wieder mit nervösen Bewegungen zurückstopfte. Stets war sie in Sorge, die Köchin oder die Hausmädchen könnten über die Stränge schlagen, wenn sie ihnen nicht auf die Finger sah. Besonders jetzt, da der alte Diener, mit dem eine jahrelange Freundschaft sie verband, wegen seines Hüftleidens kaum noch gehen konnte, klagte sie über die faulen und diebischen Angestellten, denen man nicht einmal einen hölzernen Kochlöffel anvertrauen könnte.
Wenn Marian keinen Unterricht hatte, Klavier übte oder in einem der kleineren Unterrichtsräume Noten studierte, zog sie sich in ihr Zimmer zurück. Anders als im Pensionat hatte sie hier einen kleinen Raum ganz für sich allein, den sie sogar abschließen konnte. Es war ein lange entbehrtes angenehmes Gefühl, die angefangenen Briefe oder aufgeschlagenen Bücher einfach auf dem Tischlein liegen zu lassen und sicher zu sein, dass keine fremden Finger und Augen sich ihrer annahmen. Dennoch sehnte sie sich schon in der ersten Nacht nach dem großen Schlafsaal, wo sie vor dem Einschlafen noch mit Kate oder Lisa geflüstert hatte und die vielfachen Atemzüge der anderen Mädchen ihr in den Schlaf geholfen hatten.
In solch einsamen Stunden tauchte auch der nächtliche Schattengeist, der sich Darion genannt hatte, wieder vor ihr auf, obgleich sie fest entschlossen war, ihn so gründlich wie möglich zu vergessen. Während der
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