Gesang der Daemmerung
ersten Wochen nach diesem Zusammentreffen war sie in geradezu peinlicher Weise verliebt gewesen, ein Zustand, für den sie sich inzwischen zutiefst vor sich selbst schämte. Immer wieder war sie nachts heimlich in die Bibliothek hinaufgestiegen, doch obgleich sie dort eine Weile am Tisch saß und sogar die Laterne löschte – er kam nicht. Schließlich hatte sie die nächtlichen Ausflüge enttäuscht und verärgert eingestellt, schon deshalb, weil Lisa einmal das Örtchen hatte aufsuchen müssen und Marian auf der Treppe zur Bibliothek erwischte.
»Du liebe Güte – wieso geisterst du mitten in der Nacht im Haus herum, Marian? Ach, ich weiß: Du hast einen schönen Liebhaber, der dort oben in der Bibliothek auf dich wartet. Wer ist es denn? Doch nicht etwa der arme Mr. Mills, der genau wie die beiden Crincles so plötzlich und ohne Abschied verschwunden ist? Komm, sei ein Schatz, und erzähle es mir …«
Marian hatte getan, als fände sie diesen Scherz großartig, und mit gespielter Albernheit behauptet, Jonathan Mills kletterte jede Nacht an der Fassade des Pensionats empor, stiege durch ein Fenster in die Bibliothek und wartete dort auf sie. Lisa fand diese Vorstellung so komisch, dass sie sich vor Kichern verschluckte. Marian jedoch war nach dieser Begegnung vollkommen ernüchtert. Wie lächerlich sie sich benahm! Wie grotesk es war, einem Geist nachzulaufen, noch dazu einem solchen Schwätzer, der ihr das Blaue vom Himmel heruntergelogen hatte! Ein feiner Beschützer war dieser Darion – er ließ sich einfach nicht mehr blicken!
Er hat sich die Tatsache zunutze gemacht, dass er mit mir allein war, und mich zu Unsittlichkeiten verführt, dachte sie beschämt. Und das Schlimmste daran ist, dass es mir gefallen hat. Pfui, Marian Lethaby! Wie konnte es nur passieren, dass du dich nach den Zärtlichkeiten dieses windigen Burschen gesehnt und alle Achtung vor dir selbst vergessen hast!?
Von nun an wollte sie nicht mehr an ihn denken. Was keineswegs leicht war. Im Pensionat war es ihr recht gut gelungen, weil sie dort niemals allein war. Hier aber, in der Einsamkeit ihres Zimmers, kehrten die Gedanken an den ungetreuen Darion zurück, auch sein Bild stieg wieder vor Marian auf, und sie glaubte, seine weiche dunkle Stimme zu vernehmen, seine zornige Umarmung zu fühlen.
Ärgerlich über sich selbst stand sie am Fenster und starrte in den Garten hinaus. Viel war dort selbst am Nachmittag nicht zu sehen, nur wabernde Herbstnebel, die das entlaubte Buschwerk nahezu verschluckten. Falls er sich zwischen diesen Dünsten herumtreiben sollte – sie würde ihr Fenster geschlossen halten! Bei dieser Gelegenheit stellte sie fest, dass sich das Fenster ihres Zimmers sowieso nicht öffnen ließ, man hatte es zugenagelt. Sie fand diese Tatsache zwar ein wenig merkwürdig, doch im Grunde war es ihr ja recht. So verschloss sie in der Nacht auch die Tür und verstopfte das Schlüsselloch. Darion würde kein zweites Mal Gelegenheit haben, ihre Gefühle durcheinanderzubringen!
Doch es gab noch eine weitere Plage, die ihr das Studium der Musik und des Belcanto vergällte, und das waren die häufigen Besuche ihres Vormunds. Gewiss hatte Mr. Strykers die Pflicht, sich nach den Fortschritten seines Mündels zu erkundigen, auch war er – so schien es – außerordentlich besorgt um ihr Wohlergehen. Musste er aber deshalb in ihrem Zimmer herumschnüffeln, die Bücher, die Marian von Sereno erhalten hatte, durchforsten und sogar ihre Briefe lesen?
»Ich trage eine große Verantwortung, mein liebes Kind!«, hatte er ihr erklärt, als sie sich darüber beschwerte. »Wie leicht kann solch ein unerfahrenes Ding wie du auf einen falschen Weg gelangen!«
»Wie sollte ich wohl durch ein Buch über die Gesangskunst auf einen falschen Weg gelangen?«
Er hatte das Buch nur rasch durchgeblättert, ohne ein einziges Wort darin zu lesen. Marian war nicht dumm – er hatte darin nach versteckten Zetteln oder Briefchen gesucht, schließlich gehörten zu Serenos Schülern auch drei junge Herren, die – das musste Strykers inzwischen herausgebracht haben – Marian außerordentlich zugetan waren und sich einmal sogar darum gestritten hatten, wer ein Duett mit ihr singen durfte.
»In früheren Zeiten brachte man den jungen Mädchen aus bürgerlichem Haus nicht das Schreiben bei, sondern nur das Lesen und höchstens noch das Rechnen«, meinte er grinsend, während er einen Brief von Kate entfaltete, um ihn zu prüfen. »Damit verhinderte man, dass
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