Gesang der Daemmerung
und nachdem er seinen nassen Hut abgenommen hatte, versuchte er mehrfach wie zufällig, eine Hand auf ihren Schoß zu legen. Es gelang ihm nicht, weil sie seine dicke Pranke gleich wieder fortschob, doch seltsamerweise schien dieser Misserfolg ihm heute nicht die Laune zu verderben.
»Dies ist ein besonderer Tag, meine liebe Marian!«, schwatzte er jovial. »Heute vor zwei Jahren habe ich dich vom Bahnhof abgeholt, und wir sind gemeinsam hinaus nach Hampstead gefahren. Es war dein erster Tag in London, Marian. Und auch der erste Tag im Pensionat von Mrs. Potter …«
Was redete er nur für einen Blödsinn? Sie war im Mai und nicht im November nach London gereist. Überall hatten die Obstbäume geblüht, daran erinnerte sie sich noch genau, da die wunderschönen schneeweißen und rosigen Blüten ihren Kummer um ihren kurz zuvor verstorbenen Vater noch verstärkt hatten. Aber wozu widersprechen? Die Hauptsache war, diesen lästigen Ausflug so rasch und unbeschadet wie möglich hinter sich zu bringen.
»Gewiss, Mr. Strykers …«
»Damals warst du noch ein rechtes Kind, dünn wie ein Fädchen und scheu wie ein Rehlein«, redete er weiter und wollte mit dem geknickten Zeigefinger über ihre Wange streichen, was sie durch eine rasche Drehung des Kopfes gerade noch verhindern konnte.
»Heute bis du eine junge Frau, Marian. Eine angehende Künstlerin. Das muss wohl bedacht sein! Eine Bühnenkünstlerin führt ein anderes Leben als eine gewöhnliche Frau …«
Die Kutsche fuhr scheinbar planlos durch verschiedene schmale und breitere Straßen, doch das kleine Seitenfenster war beschlagen, und Marian musste immer wieder ein Guckloch frei wischen, um Genaueres zu erkennen. Es war nicht gerade Eaton Place, was da draußen im diesigen Nieselwetter zu sehen war, vielmehr schaute es nach dem Eastend aus. Kleine halb verfallene Häuser, die dunkel vor Nässe und Schmutz waren, Kneipen, in denen schon am frühen Nachmittag reger Betrieb herrschte, ein verkommener Gasthof, eine kleine Kirche. War das Aldgate, dieser verrufene Ort, wo sich in der Nacht allerlei mörderisches Gesindel herumtrieb?
»Wo sind wir hier, Mr. Strykers?«
Er beugte sich noch weiter zu ihr herüber, um aus ihrem Kutschenfenster sehen zu können. Dabei gab es auf seiner Seite ebenfalls ein Fenster, er hätte es nur mit dem Taschentuch säubern müssen. Marian glaubte, gleich ersticken zu müssen, weil er sich auf ihren Schoß lehnte und dabei mit den Händen ihre Oberschenkel umfasste.
»Wir sind tatsächlich im Eastend. Es ist nicht mehr weit, Marian …«
»Setzen Sie sich bitte wieder gerade hin, Mr. Strykers!«, forderte sie ihn wütend auf und versuchte, ihn von sich wegzuschieben. »Und nehmen Sie Ihre Hände von mir!«
»Nun, nun … wer wird denn so empfindlich sein! Wenn du eine Künstlerin werden willst, musst du dir die Empfindlichkeiten abgewöhnen, Marian.«
Das hatte sie doch schon einmal gehört? War es tatsächlich so, dass eine Sängerin sich Bosheiten und Übergriffe gefallen lassen musste? Nun – sie jedenfalls würde das nicht tun!
»Ich möchte jetzt zurückfahren, Mr. Strykers!«, erklärte sie.
Strykers setzte sich vor Anstrengung schnaufend wieder zurecht, zog seine goldene Uhr aus der Westentasche und klappte den Deckel auf.
»Wir haben noch fast zwei Stunden Zeit, meine Kleine. Es wäre doch schade, allzu früh zurückzukehren! Was sollte Mr. Sereno da wohl von mir denken?«
»Das ist mir gleich«, schimpfte Marian, angewidert von seinem Schweißgeruch. »Weisen Sie den Kutscher an, wieder nach Soho zu fahren!«
Es war mittlerweile ungemein feucht und stickig in der Kutsche, sodass ihr fast schlecht war.
»Beruhige dich, Marian!«, sagte Strykers, der jetzt begriff, wie ernst sie es meinte. »Mach keinen Aufstand – wir sind ja gleich da. Es wird sehr hübsch sein und dir ganz sicher gut gefallen. Noch diese Gasse …«
Ein Lastfuhrwerk kam ihnen entgegen, und es dauerte eine Weile, bis die beiden Gefährte aneinander vorbeigefahren waren. Marian erschauderte, als das Gesicht des fremden Fuhrmanns für einen Moment im Seitenfenster auftauchte, denn statt der Nase hatte er nur einen formlosen dunkelroten Stumpf. Eine violettfarbene Narbe zog sich schräg über sein Gesicht – ein grässlicher Unfall hatte den armen Burschen so entstellt.
Marian war wenig begeistert, als die Kutsche bald darauf anhielt. Strykers stieg erstaunlich behände aus, lief um das Gefährt herum und öffnete den Kutschenschlag für Marian.
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