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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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hatte er bisher immer das Gegenteil gepredigt.
    »Also schön! Ende Januar kann ich einen kleinen Auftritt im Haus einer guten Bekannten arrangieren …«
    Das Angebot war ziemlich vage und gefiel Marian keineswegs. Womöglich handelte es sich nur um ein Nähkränzchen oder eine interne Wohltätigkeitsveranstaltung, zu der einige Freundinnen der Dame erschienen, um gemeinsam zu häkeln und zu schwatzen. Glaubte er vielleicht, sie ließe sich mit so etwas abspeisen?
    »Ende Januar? Das ist viel zu lange hin! Ich will beim Hauskonzert singen.«
    »Auf keinen Fall!«
    Er wand sich, sie konnte ihm ansehen, wie schwer es ihm fiel, sich einem fremden Willen zu beugen. Aber er gab nach – die Sorge, sie könnte sich fortan weigern, seine alten Melodien zu singen, schien stärker zu sein als alle Bedenken.
    »Eine Arie und ein Lied«, forderte Marian unbarmherzig. »Und ein Duett, außerdem …«
    »Was noch?!«, fuhr Sereno sie wütend an. »Willst du den Abend vielleicht ganz allein bestreiten? Nimmst du immer die ganze Hand, wenn man dir einen Finger reicht, Marian Lethaby?«
    »Eine Arie und ein Duett!«, entschied sie ungerührt.
    »Es sei!«, knurrte er geschlagen.
    Gleich darauf hatte er ihr eine seiner langweiligen Melodien vor die Nase gelegt, und sie mühte sich ab, den wenigen Tönen etwas Schönheit und Eleganz abzugewinnen. Es gelang nur schlecht, aber immerhin hatte sie ihren Teil der Abmachung ehrlich erfüllt. Sereno war nach der Übungsstunde so erschöpft, dass er sich ein Glas Wasser aus der Karaffe einschenken musste.
    Juliette, die im Vorzimmer wartete, machte große Augen, als Marian ihr im Überschwang ihres Triumphes um den Hals fiel.
    »He – darfst du etwa auftreten?!«
    »Beim Hauskonzert. Zwei Tage vor Heiligabend!«, jubelte sie. »Und ich darf mir die Arie sogar aussuchen. Magst du mit mir ein Duett singen, Julie?«
    »Na und ob! Weißt du, dass der bekannte Impresario Samuel Meller zum Weihnachtskonzert kommt? Er ist immer auf der Suche nach jungen Talenten …«
    »Oh Julie – wir beide werden bald auf allen großen Bühnen Europas singen! Marian und Juliette, das unwiderstehliche Duo …«
    Die beiden Mädchen fielen sich in die Arme und tanzten eine übermütige Runde durch das kleine Vorzimmer, ein Tischlein geriet ins Wanken, der runde Teppich verrutschte …
    »Ach, Marian!«, kicherte Juliette. »Habe ich dir nicht gesagt, dass er launisch ist? Heute so, morgen so, übermorgen …«
    Ihr heiterer Rundtanz wurde jäh unterbrochen, weil Sereno ganz gegen seine Gewohnheit die beiden Flügeltüren aufriss und Juliette wütend anzischte.
    »Kein Unterricht heute! Einer Verrückten bringe ich nicht das Singen bei!«
    Betroffen waren die beiden stehen geblieben. Als der Professor die Türen nach diesem Zornesausbruch gleich wieder zuschlug, zuckten sie zusammen.
    »Das tut mir sehr leid, Juliette …«, murmelte Marian kleinlaut.
    »Ach was!«, meinte Juliette und zuckte mit den Schultern. Doch man sah ihr die Betroffenheit an. »Heute ist er wirklich unausstehlich. Es muss am Schnee liegen.«
    Marian begleitete Juliette durch die Halle zum Ausgang, um sie dort zu verabschieden. Juliette wohnte nur wenige Straßen weiter bei einer Tante – einer »alten Zicke«, die die junge Nichte sorgsam bewachte und den Eltern für Kost und Logis nicht wenig Geld abnahm.
    »Wir singen unser Duett – verlass dich drauf!«, beharrte Marian siegesgewiss.
    Ein Weilchen stand sie an der Haustür und sah Juliette nach, die – gefolgt von Jonathan Mills – den Gartenweg zum Gittertor entlanglief. Bis auf wenige Reste hatte sich der Schnee während des Tages zu einer durchscheinenden grauen Masse gewandelt. Auf der Wiese war er gänzlich getaut und in der Erde versickert. Auch die Fußspur, die noch heute Früh für so viel Aufregung gesorgt hatte, war verschwunden. Marian fiel auf, wie geschickt Jonathan sich trotz der unförmigen Schuhe bewegte. Er übersprang die breiten Pfützen, ohne auszugleiten oder zu stolpern, überholte Juliette mühelos und war rechtzeitig zur Stelle, um ihr das Gittertor aufzuschließen.
    In ihrem Zimmer musste Marian die Gaslampe anzünden, die Dämmerung brach um diese Jahreszeit früh herein. Eigentlich hätte sie sich über ihren Erfolg freuen können, sie hatte erreicht, was sie immer gewollt hatte: Sie durfte öffentlich singen. Trotzdem verspürte sie ein banges Gefühl, das sich verstärkte, als ihr Blick wieder auf Strykers’ Brief fiel.
    Aufmachen und lesen? Oder

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