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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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gleich fortwerfen? Sie war zu neugierig und riss den Umschlag auf, zerrte das zusammengefaltete Blatt heraus und stellte überrascht fest, dass sich zwei Briefe im Umschlag befanden. Der eine stammte ohne Zweifel aus Mr. Strykers’ Feder. Sie erkannte seine kleine emsige Schrift und die üblichen Phrasen, die sie längst auswendig kannte. Der zweite Brief war auf grobem Papier geschrieben, die Tinte zerfloss sogar an einigen Stellen. Dafür hatte der Verfasser eine ganz ungewöhnlich schöne, fein geschwungene Handschrift.
    An Marian, Lavinias Tochter,
    lange haben wir gezögert, waren zu feige, allzu sehr um uns selbst besorgt, um unsere Pflicht zu tun. Nun aber wissen wir, welch große Aufgabe wir erfüllen müssen. Das Mädchen aus dem Hause der Königin ist geboren, das Zeichen der Sonne kam in die Welt. Der silberne Fluss wird ihm folgen, und auch das letzte, größte Wunder wird sich vollziehen. Das Spiel der Töne wird den Fels zum Bersten bringen, und wenn dies geschehen ist, kann das Reich der Lichtelben neu erstehen.
    Du, Marian, Lavinias Tochter, darfst in diesem Haus nicht bleiben, denn hier lauern die Schatten, um dich in Besitz zu nehmen. Öffne uns dein Fenster heute Nacht, damit wir dich von hier an einen sicheren Ort bringen können! Denn dies ist unsere Aufgabe: die neue Königin zu schützen, bis der Tag gekommen ist, auf den die Kinder des Lichts, die heimatlos auf der Erde zerstreut leben müssen, schon so lange Zeit hoffen.
    Marian las die Zeilen mit großer Verwunderung, denn sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Was für ein verrücktes Zeug! Auch die Unterschrift war rätselhaft. Sie bestand aus mehreren übereinanderliegenden Worten, und obgleich sie das Schreiben näher an die Lampe hielt, war die Schrift kaum zu entziffern.
    Erin … Egrin … Eireen. Darüber waren andere Namen geschrieben: Crinstle, Creekle, Christle … Crincle.
    Der Gedanke, dass Mr. Crincle, der schweigsame Gärtner mit den breiten Händen, oder gar seine Frau diese seltsamen Zeilen verfasst haben könnte, erheiterte Marian. Nein – die beiden waren es ganz gewiss nicht gewesen, zumal sie sich nicht völlig sicher war, ob Mr. Crincle überhaupt des Schreibens kundig war.
    Ein dummer Scherz ihrer Mitschülerinnen? Hatte man sie vielleicht gar dazu verführen wollten, heute Nacht aus dem Fenster zu steigen? Um sich dann über sie lustig zu machen? Hatte Jonathan Mills nur so harmlos getan, während er in Wirklichkeit mit Lillian und Elisabeth im Bunde war? Ach nein, das mochte sie nicht glauben!
    Sie las den merkwürdigen Brief noch einmal. Wer immer das geschrieben hatte, er kannte den Namen ihrer Mutter. Falls es sich tatsächlich um einen Scherz handelte, dann fand sie es nicht gerade geschmackvoll, ihre verstorbene Mutter hineinzuziehen.

Kapitel 16
    »Du willst uns also nicht begleiten?«, fragte Elisabeth spitz. »Ach, wie schade!«
    Die beiden Mitschülerinnen standen fertig angekleidet in der Halle. Lillian trug eine lederne Mappe unter dem Arm, in der die Noten vor den feuchten Schneeflocken geschützt waren. Beide hatten sich in warme Jacken mit Pelzkrägen gehüllt und zusätzlich mit wollenen Schultertüchern ausgestattet, denn sie würden eine Weile in der Kirchenbank sitzen und auf ihren Auftritt warten müssen. St. Jacob war wie alle kleinen Kirchlein schlecht geheizt.
    »Wie jammer-jammerschade!«, wiederholte Lillian. »Dabei hörte ich, dass du diese Kirche recht gut kennst. Stimmt das?«
    Marian verfluchte ihre Neugier, die ihr dieses unliebsame Zusammentreffen beschert hatte. Wäre sie doch in ihrem Zimmer geblieben – aber nein, sie musste in die Halle hinunterlaufen, um dort in den alten Bücherschränken herumzuschnüffeln! Dabei wusste sie doch, dass die beiden spätestens gegen fünf Uhr hier auftauchen mussten. Sereno hatte – wie er es immer tat – einen Hansom bestellen lassen.
    »Ich war früher im Pensionat von Mr. Duncester, das sich nicht weit von der Kirche befindet«, erklärte sie. »Wir haben jeden Sonntag den Gottesdienst in St. Jacob besucht.«
    »Ach, wie süß!«, rief Elisabeth aus und schlug ihre Hände zusammen, die in warmen Pelzhandschuhen steckten. »Du warst eines dieser niedlichen kleinen Mädelchen in den grauen Kleidchen mit den weißen Krägelchen. Du hast sicher bezaubernd ausgesehen, Marian!«
    »Oh, sie würde auch jetzt noch niedlich ausschauen, wenn man sie in solch eine Uniform steckte«, ließ Lillian sich vernehmen. »Aber wenn du dich dort so gut

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