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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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auskennst, können wir wirklich nicht verstehen, weshalb du nicht mitkommst. Schmollst du etwa, Marian Lethaby?«
    »Wie kommt ihr denn auf so etwas?«
    Marian hörte selbst, dass ihr Ausruf nicht ganz überzeugend klang. Deshalb redete sie vorsichtshalber rasch weiter, erklärte, dass Professor Sereno es lieber sähe, wenn sie den heutigen Abend in der Villa blieb, schon wegen des feuchten Wetters, und außerdem hätte sie an ihren eigenen Auftrittsstücken zu arbeiten. Das war nicht einmal gelogen. Sereno, der sonst so viel Wert darauf legte, dass seine Schüler bei den Auftritten ihrer Kollegen zuhörten, hatte Marian niemals dazu aufgefordert. Einige Male war sie trotzdem in der gemeinsam gemieteten Kutsche mitgefahren, hatte jedoch von Elisabeth und Lillian bald zu hören bekommen, dass die Fahrt nicht umsonst wäre und sie sich an den Kosten beteiligen müsste. Daraufhin war sie lieber in der Villa geblieben, denn Mr. Strykers zahlte ihr keinen Penny Taschengeld.
    »Ja, das Wetter ist wirklich schlimm … Man muss aufpassen, dass man sich keine Erkältung holt, besonders wenn man so zart wie unsere kleine Marian ist …«, heuchelte Lillian Mitgefühl.
    »Es ist noch eine ganze Woche Zeit bis zum Hauskonzert – eine Stimmbandentzündung kann sich leicht über Nacht entwickeln.«
    Die beiden benahmen sich wie besorgte ältere Schwestern, aber an den Seitenblicken, die sie sich zuwarfen, konnte Marian erkennen, dass es ihnen große Freude machte, das »blonde Engelchen« vorzuführen. Erst als die große Gestalt des Professors, angetan mit Mantel und Zylinderhut, in der Halle auftauchte, ließen die beiden von Marian ab und beeilten sich, ihrem Lehrer nach draußen zu folgen. Obgleich Sereno über einen Schlüssel verfügte, musste Jonathan Mills das Gittertor für sie öffnen und es wieder hinter ihnen verschließen. Als er danach in die Halle zurückkehrte, waren sein dunkles Haar und seine Jacke mit weißen Watteflöckchen gesprenkelt.
    »Dieses Jahr wird es vielleicht Schnee zu Weihnachten geben«, meinte Marian lächelnd. »Es schaut so hübsch aus. Jede dieser weißen Flocken besteht aus Tausenden winziger kunstvoller Eiskristalle. Wenn die Sonne darauf scheint, glitzern sie in allen Farben wie ein Feuerwerk.«
    »Das ist wahr, Miss Marian«, stimmte er ernst zu. »Ein Feuerwerk, das die Augen blendet.«
    Sie schob sich die Lampe ein wenig näher zum Bücherregal und lachte über seine bekümmerte Miene.
    »Haben Sie empfindliche Augen, Mr. Mills?«
    »Ein wenig«, murmelte er.
    Er senkte den Kopf und fuhr sich mit der Hand durch das Haar, um die nassen Flöckchen abzuschütteln. Als er sich wieder aufrichtete, hing es ihm zwar reichlich wirr herunter, aber es stand nicht mehr in lächerlichen Büscheln ab. Marian, die mit ihrer Suche beschäftigt war, hatte nur einen kurzen Blick zu ihm hinüberwerfen wollen, jetzt aber blieben ihre Augen an ihm hängen. Wie seltsam – er ähnelte immer stärker diesem treulosen Schattengeist, dessen Namen sie nicht einmal mehr denken wollte. Es musste ihre Fantasie sein, die ihr diesen Unsinn vorgaukelte!
    »Wonach suchen Sie denn?«, wollte er wissen und blinzelte in den matten Schein der Gaslampe.
    »Ach, nur ein Wörterbuch«, schwindelte sie. »Ich werde ein Lied von Franz Schubert singen und möchte wissen, was der Text bedeutet.«
    »Ist es denn nicht ins Englische übersetzt?«
    »Doch, aber Sereno besteht darauf, dass ich mir den Originaltext ganz genau ansehe. Er ist da sehr eigen …«
    Er wollte zu ihr hinübergehen, um die oberen Reihen des Bücherregals, die sie ohne Schemel nicht erreichen konnte, durchzusehen. Doch er kam nicht dazu – Mrs. Waterfields Befehlsstimme drang aus der Küche.
    »Jonathan! Wo treibt dieser Bursche sich denn nur herum? Jonathan – es fehlt Brennholz! Und die Küche muss gekehrt werden. Wieso ist die Halle nicht gewischt?!«
    »Ich fliege, Mrs. Waterfield!«
    Es klang grimmig, und Marian hätte gern gelacht, wenn ihr der arme Jonathan Mills nicht so leidgetan hätte. Eine Weile hatte man sich darüber amüsiert, dass die gefürchtete Mrs. Waterfield den jungen Mann erstaunlich milde behandelte, aber damit schien es inzwischen vorbei zu sein. Ganz im Gegenteil: Wenn es um Jonathan Mills ging, verwandelte die Wirtschafterin sich gern in eine Furie.
    Marian fand tatsächlich ein deutsch-englisches Wörterbuch und nahm es mit auf ihr Zimmer. Obgleich Sereno ihr keineswegs angeraten hatte, den deutschen Urtext nachzulesen, fand sie

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