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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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»Das ist doch eigentlich Mr. Mills’ Arbeit.«
    »Nun, dann wird der arme Kerl vielleicht krank geworden sein«, überlegte Juliette mitleidig. »Kein Wunder, wo er doch bei jedem Wetter nach draußen laufen muss, um das Tor aufzuschließen …«
    Marian trank einen Schluck Tee, um das enge Gefühl im Hals loszuwerden. Das kühle Glas der kleinen Phiole schien sich unter dem Kleiderärmel an ihre Haut zu pressen.
    »Hat … hat jemand von euch Jonathan Mills heute schon gesehen?«
    Verneinende Gesten, Schulterzucken, einer der beiden jungen Männer befragte ein Dienstmädchen und erhielt die Auskunft, Jonathan Mills wäre heute Früh nicht zur Arbeit erschienen. Mrs. Waterfield hätte sich daraufhin höchstselbst in seine Schlafkammer oben unterm Dach begeben, um nach ihm zu schauen und den Faulpelz gegebenenfalls aus dem Bett zu werfen. Dort hätte die Wirtschafterin festgestellt, dass Mills’ persönliche Besitztümer wie Kamm, Zahnbürste, zwei Unterhemden, drei Paar Socken, eine geflickte Hose sowie einige Kupfermünzen noch vorhanden waren, von ihm selbst aber jede Spur fehlte. Auch in den Wirtschaftsräumen, im Keller und im Garten war erfolglos nach ihm gesucht worden, sodass Mrs. Waterfield schließlich annahm, dass der treulose Bursche sich über Nacht davongemacht hatte.
    »Das ist nicht recht von ihm«, jammerte das Dienstmädchen. »Gerade jetzt, wo wegen des Hauskonzerts so viel Arbeit ansteht, muss er weglaufen!«
    Marian stimmte ihr kopfnickend zu und äußerte ebenso wie Juliette ihre Empörung über diesen unzuverlässigen Burschen – dann jedoch wurde sie schweigsam. Ihre Vermutungen hatten sich nun also auf das Schlimmste bestätigt: Darion hatte sie kaltherzig belogen und verführt, um sich das Buch zu beschaffen. Nun, da er besaß, wonach es ihm gelüstete, war auch seine Rolle als Jonathan Mills ausgespielt, und er war davongefahren, dorthin, woher er gekommen war. Ganz sicher war das ein Ort, an dem kein Mensch, sondern höchstens ein Geistwesen ihn auftreiben konnte.
    Es war nicht einfach für Marian, ihre tiefe Niedergeschlagenheit vor den anderen zu verbergen. Vor allem Juliette besaß ein feines Gespür. Sie neigte sich zu Marian hinüber und flüsterte:
    »Geht es dir gut, Mary? Du bist auf einmal so still.«
    »Ach, ich bin nur ein wenig müde …«
    Das war nicht einmal gelogen, sie war wirklich erschöpft. Kein Wunder, schließlich war sie die halbe Nacht wach geblieben, um auf einen Geist zu warten, der längst über alle Berge war. Oh, wie dumm sie sich doch benommen hatte! Und selbst jetzt, da sie ihn vollkommen durchschaute, war ihr so jammervoll zumute, dass sie am liebsten laut geweint hätte. Er war schön und begehrenswert, dieser gewissenlose Lügner. Seine Hände und Lippen konnten ein Mädchen zur Glückseligkeit führen, während doch sein Herz dabei kalt wie Eis blieb. Weshalb gelang es ihr immer noch nicht, zornig auf ihn zu sein? Sie hätte ihn hassen sollen, diesen gemeinen Lügner! Doch alles, was sie zustande brachte, waren verhaltene Tränen.
    »Na so etwas!«, hörte sie Juliettes überraschte Stimme. »Wir sind noch nicht einmal für den Einzelunterricht eingetragen! Ich glaube fast, der Professor will uns gar nicht auftreten lassen.«
    Gleichgültig überflog Marian den Unterrichtsplan, der wie üblich an der Flurwand aufgehängt worden war. Der Auftritt morgen beim Hauskonzert, den sie sich so hartnäckig erkämpft hatte, erschien ihr jetzt als das Unwichtigste der Welt. Wozu wollte sie dort überhaupt singen? An diesem Affentheater teilhaben, das heute schon seine düsteren Schatten vorauswarf? Serenos Nervosität hatte längst auch seine Schüler angesteckt, überall brachen Streitereien aus. Man reagierte betroffen, wo man sonst gelächelt hätte, es wurden die Namen wichtiger Leute, die im Publikum sitzen würden, geflüstert, und diejenigen Schüler, die nicht auftreten durften, platzten vor Neid.
    »Aber natürlich werden wir singen, Julie! Das Programm ist doch schon gedruckt und wurde den eingeladenen Gästen zugeschickt …«
    Richtig, in ihrer Enttäuschung hatte Juliette diesen Umstand völlig vergessen. Jetzt seufzte sie erleichtert auf und erklärte, den Nachmittag lieber bei ihrer Tante verbringen zu wollen, als sich hier von den lieben Kollegen verrückt machen zu lassen. Schließlich wäre morgen noch genügend Zeit, um das unweigerlich auftretende Lampenfieber auszuleben.
    »Komm doch mit, Marian! Meine Tante ist zwar eine alte

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