Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
Vom Netzwerk:
wollten, und verließ entschlossen das Bett, um sich gar nicht erst dem Kummer und der Enttäuschung hinzugeben. Wie gut, dass es so kühl im Zimmer war, so musste sie fröstelnd ihre Wäsche und die Kleider zusammensuchen und hatte keine Zeit zu heulen. Ganz im Gegenteil: Während sie sich die langen spitzenbesetzten Unterhosen in der Taille band und das Mieder zuhakte, kamen ihr allerlei schlimme Vermutungen in den Sinn.
    Hatte Darion, der Geist der Nacht, es vielleicht von Anfang an nur auf dieses Buch abgesehen gehabt? Natürlich – weshalb sonst hatte er in Serenos Archiv herumspioniert? Er hatte erfolglos nach diesem Buch gesucht, das Marian selbst auf den ersten Blick entdeckt hatte. Nur aus diesem Grund hatte er sie in ihrem Zimmer aufgesucht, hatte sie verführt und ihre Hingabe genutzt: um sie zu bestehlen!
    Was heißt »Hingabe«?, dachte Marian bitter und zündete die Lampe an, um sich das Haar vor dem kleinen Wandspiegel zu kämmen. Ich sollte es besser »Dummheit« nennen. Ich war recht großzügig zu ihm, ließ ihn in mein Bett, erlaubte ihm, mich zärtlich zu berühren, danach zu bestehlen, und um meine Einfalt noch zu krönen, nahm ich klaglos hin, dass er mir auch dieses hübsche Amulett verweigerte. Als Unterpfand seiner Liebe wollte ich mir dieses Ding um den Hals hängen, ich blödes Huhn! Aber natürlich – weshalb sollte er es mir schenken, da er mich doch gar nicht liebt!
    War es tatsächlich so? Hatte es sich auch bei seinen Liebesversprechen um Lügen gehandelt? Alles passte so perfekt zusammen, und doch mochte sie Darion nicht ganz und gar verurteilen.
    »Warte nur!«, murmelte sie und betrachtete ihr aufgestecktes Haar im Spiegel. »Heute wird Jonathan Mills nichts zu lachen haben!«
    Sie würde ihm sehr deutlich zeigen, dass sie keine dumme Gans war, wie er offensichtlich glaubte. Sobald sie Gelegenheit fand, für ein Weilchen mit ihm allein zu sein, würde sie das Buch von ihm fordern. Auf der Stelle hatte er es beizubringen! Tat er es nicht, dann … dann würde sie Professor Sereno verraten, dass sein Hausangestellter in Wirklichkeit ein nächtlicher Geist war …
    Marian schluckte und wurde sich dessen bewusst, dass man sie in diesem Fall vermutlich auslachen oder für verrückt erklären würde. Beklommen blickte sie auf ihr eigenes Bild in dem kleinen Wandspiegel. Wie blass sie war! Wie groß ihre Augen erschienen! Die Iris grün und dunkelrot gefiedert wie das Federkleid eines Vogels, dazwischen goldfarbene und silberne Einsprengsel. In den schwarzen Pupillen schwamm das Spiegelbild einer Landschaft, sie konnte Hügel und Wälder erkennen, auch die zarte Linie eines Bachlaufs.
    Es ist schon merkwürdig, dass meine Augen in letzter Zeit so oft ihre Farbe verändern, dachte sie besorgt. Bin ich vielleicht doch krank? Oder verrückt? Wieso bin ich davon überzeugt, dass der Hausangestellte Jonathan Mills in Wirklichkeit Darion, der Geist der Nacht ist? Was für ein Unsinn! Wahrscheinlich habe ich das alles nur geträumt, und es gibt in Wirklichkeit weder ein Buch noch einen Geist der Nacht. Nur Marian Lethaby, eine angehende Sängerin, die vom Größenwahn befallen wurde und vermutlich in einer Irrenanstalt enden wird.
    Nein, vermutlich war es klüger, sich Jonathan Mills gegenüber völlig normal zu verhalten. Marian stand auf, um ihren Morgentee hereinzuholen. Vor lauter Grübeln hatte sie ihn fast vergessen, bestimmt war er nun nicht mehr heiß. Als sie vor ihre Zimmertür trat, schlug die große Standuhr unten in der Halle halb neun, und man konnte Elisabeths helles Lachen hören, das immer so künstlich klang. Himmel, wie spät es schon war, in einer halben Stunde würde der Unterricht be…
    Der Tee in der Tasse schwappte über, und Marian schaffte es gerade noch, das bunt bemalte Geschirr mit zitternden Händen auf der Kommode abzustellen. Dann bückte sie sich, um einen kleinen Gegenstand vom Fußboden aufzuheben.
    Es war ganz ohne Zweifel das Amulett. Hell glänzte die Flüssigkeit in dem kleinen Glasbehälter, sogar hier im dämmrigen Flur konnte sie die bunt schimmernden Lichtblitze wahrnehmen, die das Amulett aussandte, wenn man es bewegte. Einen Augenblick lang war sie tief ergriffen. Nein, sie war nicht verrückt, sie hatte auch nicht geträumt – Darion, ihr nächtlicher Gefährte war ein Teil der Wirklichkeit! Mehr noch: Er hatte sich besonnen und ihr das Amulett, das sie so sehr begehrte, zum Geschenk gemacht.
    »Hast du etwas verloren, Marian? Sollen wir dir

Weitere Kostenlose Bücher