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Gesang der Rosen

Gesang der Rosen

Titel: Gesang der Rosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Vorlage?«
    »Wie bitte?«
    »Ich meine, diese Lieder, diese Texte kann er sich doch nicht aus den Fingern saugen. Dazu braucht er Vorlagen, verstehen Sie mich? Beispiele!«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Kann ich ihn mal sprechen?«
    »Ich habe keine Ahnung, wo er ist. Wahrscheinlich treibt er sich wieder in den Hügeln herum. Aber ich verstehe Sie nicht. Was soll das für einen Zweck haben, mit dem Kerl zu sprechen? Das ist doch das Ganze nicht wert.«
    Bonnet nickte.
    »Wahrscheinlich haben Sie recht«, pflichtete er bei. »Es ist auch gar nicht notwendig, mit ihm persönlich zu sprechen. Wir können das Verfahren abkürzen. Ist Ihre Tochter da?«
    »Nein, wieso? Ich habe sie heute nach Avignon geschickt.«
    »Schade, wir hätten sie sonst fragen können, ob sie noch ein Blatt davon besitzt. Wenn ja, hätte ich sie bitten können, es mich einmal lesen zu lassen.«
    »Sicher hat sie das noch«, erklärte der Schmied zornig. »Etwas Heiligeres scheint es für sie ja nicht mehr zu geben. Aber das Lesen müssen Sie sich aus dem Kopf schlagen. Den Fetzen gibt die an keinen mehr heraus. Sie hat da einen Schwur leisten müssen, verriet sie meiner Frau. Total verrückt, das Ganze.«
    »Schade«, bedauerte Bonnet noch einmal und wandte sich dem Glase zu.
    Das Thema schien abgeschlossen zu sein. Die beiden wetteiferten nun darin, dem Wein die Ehre zu geben, und sprachen vom neuen Jahrgang, der zu erwarten war, bis der Schmied plötzlich sagte: »Wenn das ein rechter Mist wäre, würden Sie meine Tochter doch darüber nicht im Zweifel lassen, oder?«
    »Wenn was ein rechter Mist wäre?«
    »Dieser Text, den er ihr aufs Fensterbrett gelegt hat. Dann wäre sie nämlich endlich geheilt, wissen Sie.«
    »Sie sagten doch, daß die das Papier nicht herausgibt. Außerdem ist sie ja gar nicht da.«
    »Aber das Blatt.«
    »Das Blatt? Wo?«
    »In ihrem Schrank, nehme ich an. Und zu diesem hätte ich einen Schlüssel, von dem sie nichts weiß.«
    Minuten später hielt Julien Bonnet den Bogen in der Hand, den André in jener Nacht vor einigen Wochen seiner Jeanette hatte zukommen lassen. Das Verhalten Tergniers, aber auch Bonnets, der Einbruch in Jeanettes Schrank, war auf den enthemmenden Alkoholgenuß der beiden zurückzuführen.
    Bonnet las. Es war still in der Schankstube. Dann legte Bonnet das Blatt auf den Tisch, setzte die Brille ab, putzte sie, setzte sie wieder auf, nahm das Blatt erneut in die Hand und las den Text ein zweites Mal, nun aber nicht mehr stumm, sondern mit vernehmbarer Stimme:
    Laßt die Hörner fröhlich klingen,
seht, mein Roß stampft schon im Sand,
schmückt mit Blüten mir den Helm,
denn ich reite weit ins Land …
    Er brach ab, wischte sich mit der Hand über die Stirn, blickte mit einem ganz merkwürdigen Ausdruck den Schmied an, der das vernichtende Urteil, mit dem er rechnete, kaum mehr erwarten konnte, hielt ihm den Papierbogen vor Augen und stieß hervor: »Wissen Sie, was das ist?«
    »Ja, ein Riesenquatsch.«
    »Nein, ein Rätsel.«
    »Wieso ein Rätsel?«
    Obwohl das gar keinen Zweck hatte, fuhr Bonnet, den wachsende Aufregung befiel, fort: »Kennen Sie den Namen Marcabrun?«
    »Nein.«
    »Marcabrun war einer der größten Troubadoure. Er lebte im 12. Jahrhundert, und zwar hier in dieser Gegend …« Bonnet fuchtelte mit seinem Blatt vor Tergniers Nase herum. »Und dieser Text da erinnert in ganz unglaublicher Weise an Marcabrun. Ich kann mir das nicht erklären.«
    Der Schmied guckte dumm. Er verstand nicht, wovon der andere sprach.
    »Hören Sie«, sagte Bonnet, »wir müssen das noch einmal rekapitulieren …«
    »Was müssen wir?« unterbrach ihn Tergnier.
    »Rekapitulieren … wiederholen. – Sie sagten, dieses Blatt hier stammt von einem Küsterjungen …«
    »Ja, von André Tornerre.«
    »Der kein Studium hat?«
    »Nein.«
    »Der sechzehn Jahre alt ist?«
    »Knapp, soviel ich weiß.«
    »Der sich aber mit Troubadouren beschäftigt?«
    »Er hat nichts anderes im Kopf.«
    »Welche Bibliotheken sind ihm zugänglich?«
    »Was?«
    »Welche Bibliotheken ihm zugänglich sind?«
    Der Schmied guckte noch dümmer als vorher, und nun erst erkannte Bonnet das Fruchtlose seines Bemühens. Er sprang auf.
    »Wo ist er?«
    »Wer?«
    »Der Junge!«
    Tergnier zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich in den Hügeln, sagte ich Ihnen schon.«
    »Beschreiben Sie mir den Weg!«
    Das geschah, aber vorher mußte sich der Herr aus Paris noch ins Gästebuch eintragen. Tergnier riß die Augen auf, als er die Eintragung las:

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