Gesang der Rosen
das Maß des Menschlichen verliere,
daß ich mit Torheit meinen Ehrgeiz ziere
und grauenhaft verflucht ins Dunkel wanke.
Oh, halt mich, Liebste, fest in deinen Armen,
ich friere in der Sonne Flammenpfeile.
Es gibt doch für den Menschen kein Erbarmen,
ihm scheint das Glück nur eine kurze Weile.
Verzeih dem Wandrer in den Ruf des Lebens,
ich weiß, die Hoffnung auf die Sonne ist vergebens!
Er überlas das Gedicht nicht noch einmal, wie er es sonst gewöhnt war, sondern faltete das Blatt zusammen und schob es in die Mappe. Dabei fühlte er die alten, harten Bogen der Lieder, und seine Hand zuckte zurück, als habe sie etwas Feuriges berührt.
»Nicht hier«, flüsterte André und schob die Mappe unter seinen Kopf, während er sich wieder zurück ins Gras legte. »Geduld … mein lieber Marcabrun … unten, in der alten Kapelle … vor dem Bild des Ritters ist der Platz! Dort sollst du mir sagen, ob dein stummer Bruder an der Wand der Menschen spottete, als er auf seine Fahne schrieb: Verachte, daß du verachtet wirst!«
Er blickte trotzig, als wisse er schon jetzt den Ausgang des Duells mit der Vergangenheit, und er lag und bot sich den goldenen Strahlen der Sonne dar, um sie in sich aufzuspeichern für das Dunkel kommender Tage.
So sank er in Schlaf und hatte einen herrlichen Traum. Er lächelte im Schlaf, denn er sah unter sich die Welt als einen Kaiserapfel in der Rechten Gottes.
*
Als der Tag sich verabschiedet hatte und die Sterne über Carpentras aufgegangen waren, schlich André Tornerre auf Zehenspitzen und auf knarrende Stufen achtend aus dem Haus, huschte als ein fliegender Schatten über den Marktplatz und schlüpfte in die Kirche, nachdem er deren Tür mit einem im Schloß leise knirschenden Schlüssel – dem seines Vaters – geöffnet hatte. Mit raschen Schritten eilte er den Mittelgang entlang, sank vor dem unter den hohen Fenstern wie ein mächtiger schwarzer Fleck aussehenden Altar kurz in die Knie und schlüpfte dann durch die kleine Tür hinunter in die modrige Krypta der alten, vergessenen Kapelle.
Erst als er die letzte Stufe erreichte, nahm er aus seiner Tasche eine Kerze und zündete sie an, schritt dann zu dem Taufbecken, ließ Wachs von der Kerze tropfen und klebte sie mit demselben auf den Rand des ausgehöhlten Steines.
Wieder, wie immer, wenn er in dieser Gruft weilte, fröstelte ihn, und er zog die Schultern zusammen. Mit einem scheuen Seitenblick streifte er das im Kerzenlicht halbdunkle, verschwommene und durch das Flackern des Lichts lebendig gewordene Mosaik, ging dann zur hinteren Ecke, wo es unentwegt in einem monotonen Rhythmus von der Decke tropfte, und stand nun unmittelbar vor der steinernen Mauer.
Während der eigene Schatten auf seine Hände fiel, machte er sich an einem großen Stein in der Quadermauer zu schaffen, schob ihn zur Seite, griff in eine hinter dem Stein sich zeigende Höhlung und zog aus ihr ein schmales längliches Kästchen aus Bronze hervor, mit dem er zurück zum Taufbecken ging. Langsam, als fürchte er sich vor einem unbekannten Inhalt, hob er den Deckel hoch und rückte das offene Kästchen näher an die blakende Kerze heran.
Mit den Fingerspitzen entnahm er ihm eine dünne Rolle vergilbter, brüchiger, unbeschriebener Pergamente, die vor Hunderten von Jahren einmal gekauft worden und dann auf unbekannte Weise in ein Versteck der damals sehr besuchten Kirche geraten waren.
Vorsichtig hielt André die Pergamente ans Licht, nachdem er sie entrollt hatte, prüfte mit dem Daumen ihre Festigkeit und riß an einer Ecke den ersten Bogen ein wenig ein.
Dann ließ er plötzlich die Papiere in den Taufstein fallen und schlug die Hände vor seine Augen.
»Eine Gemeinheit ist das, was ich tue«, stammelte er. »Ein Verbrechen … Vater, du lachtest … und dabei nanntest du mich einen Lumpen … und du, Jeanette, du ließest mich allein, als ich dich brauchte … als ich nicht anders konnte … als die Wahrheit stärker war … alle, alle lachten … oh, dieses Lachen … dieses Lachen …«
Er legte die Stirn auf den Rand des Beckens, knickte in die Knie und verharrte in dieser Stellung eine lange Zeit.
In der Ecke tropfte es. Die Kerze blakte in der feuchten Moderluft. Der Drang zu husten kitzelte in der Kehle. André gab ihm zweimal nach und erschrak vor dem Geräusch, das von ihm selbst stammte.
Dann war es wieder still, so still wie in einem Grab, wäre das Tropfen nicht gewesen.
Im Inneren des knienden André rang eine lichte Welt mit schweren,
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