Gesang der Rosen
Bibliothekar?«
»Nein.«
»Ein Mönch?«
»Nein.«
»Was dann?«
»Ein junger Mensch«, antwortete Julien Bonnet widerstrebend und fingerte in seiner Hose nach einem Taschentuch, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.
»Wie jung?«
»Sechzehn Jahre.«
Es wurde still, keine überraschten Ausrufe ertönten mehr, und das war noch schlimmer als vorher.
Die Gruppe kam an einem Standplatz für Taxis vorbei, und wieder benützte Henry Saintine die Gelegenheit, die Situation zu verändern, indem er vorschlug, den Rest des Weges zum ›Ritz‹ nun nicht mehr zu Fuß zurückzulegen.
Nach dem Festmahl knöpfte sich Saintine in einer dämmrigen Ecke der Hotelbar seinen Freund vor.
»Julien, um Himmels willen, wer ist dieser sechzehnjährige Knabe, den du sogar mir vorenthalten hast?«
»Der Sohn des Küsters von Carpentras. Zwei Brüder von ihm sind bei Verdun gefallen. Sie hatten sich freiwillig gemeldet und …«
»Julien, laß den Quatsch, versuch nicht abzulenken. Mich interessiert jetzt nicht Verdun, sondern dieser Knabe. Welche Schulbildung hat er?«
»Keine.«
»Das wird ja immer lustiger. Wie kommt er zu diesen Liedern? Wie konnte er sie erkennen? Woher hat er die nötigen Kenntnisse, welche die Voraussetzung zu so etwas sind?«
»Er ist Autodidakt.«
»Mach mich nicht verrückt, Julien! Ein sechzehnjähriger Autodidakt auf einem der abgelegensten Gebiete der Literatur … ohne jede Schulbildung. Julien, ich bitte dich … einen solchen gibt es nicht!«
»Du irrst dich, Henry. Das ist ein ganz außerordentlicher Junge, glaub mir.«
»Gut«, sagte Saintine kurz entschlossen, »ich werde nach Carpentras fahren und ihn mir ansehen.«
»Das ist nicht nötig, Henry.«
»Wieso nicht?«
»Ich werde ihn dir hier in Paris vorführen.«
»Ist er hier?«
»Noch nicht, aber sehr bald wird er hier sein. Er hat mit mir Carpentras verlassen, entschied sich aber unterwegs für einen kurzen Aufenthalt in Avignon. Von dort will er nachkommen.«
»Ein Küstersohn schwimmt nicht in Geld. Woher hat er die Mittel für solche Extratouren?«
»Ich gab ihm fünftausend Franc.«
»Fünftausend Franc? Wofür?«
»Für seinen Fund.«
»Julien, Julien …« Saintine schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll. Es ist ja nicht meine Sache, aber wie kommst du überhaupt dazu, mit fünftausend Franc im Sack in der Gegend herumzukutschieren?«
»Ich habe sie mir überweisen lassen.«
»Wenigstens das! Aber weg sind sie ja jetzt so oder so! War das der Preis dieses frühreifen Händlers?«
»Nein.«
»Willst du damit sagen, daß du ihm einen solchen Riesenbetrag freiwillig gegeben hast?«
»Notfalls hätte ich ihm den doppelten und dreifachen gegeben.«
»Julien«, sagte Saintine seufzend, »du bist verrückt. Hoffentlich hast du nicht die Katze im Sack gekauft.«
»Sei unbesorgt, Henry, ich bin auf keine Fälschungen hereingefallen.«
Das Gespräch der beiden hatte lange genug gedauert. Sie verließen die Bar, um sich im großen Saal einzufinden, wo die Kapelle beim Erscheinen Bonnets den Triumphmarsch aus ›Aida‹ zu spielen begann.
In der gleichen Nacht verscheuchte ein Portier des ›Ritz‹ einen mittelgroßen, schmächtigen Jungen von vielleicht sechzehn Jahren, der von draußen durch die Fenster des großen Saales starrte und mit großen Augen den Trubel des Festes verfolgte.
Und der Junge ging, nickte dem Portier sogar höflich zu, blieb noch einmal lauschend stehen, als sich ein lauter, rauschender Tusch an den Toast des Präsidenten der Académie Française anschloß, und wanderte dann hinein in die Dunkelheit, bis er im Schatten einer Nebenstraße untertauchte.
Im Saale aber, inmitten des tosenden Lärmes, der ihn umgab, kämpfte Julien Bonnet einen stillen Kampf. Die Saat des Mißtrauens, der Unsicherheit war in sein Herz gesenkt worden. Die Pergamente des Marcabrun tanzten ihm vor den Augen. Waren es solche? Oder waren es Pergamente des André Tornerre?
Ausgeschlossen!
Dieses Wort versuchte Julien Bonnet sich selbst geradezu einzuhämmern.
Und irgendwo im großen, schlafenden Paris lag in einer Herberge durchziehender Handwerker auf einem harten Feldbett ein Junge, starrte mit großen Augen an die getünchte Decke und sagte mit leiser, zitternder, fast schluchzender Stimme: »Paris – warum hast du mich so empfangen?«
*
Die Entdeckung der letzten Liebeslieder Marcabruns, vor allem aber der Romanze ›Gesang der Rosen‹ versetzte die literarische Welt in
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