Gesang der Rosen
Aufregung, entflammte die sonst stillen Geister der sich ganz in die Historie vergrabenden Forschung, heizte Diskussionen an, begeisterte in den Hörsälen Studenten wie Professoren mit der gleichen Glut, die über Jahrhunderte hinweg aus den Versen strömte.
Allein Julien Bonnet saß einsam im tosenden und ewig lockenden Paris über den schweren Pergamentbänden der Académie und verglich mit Hilfe eines starken Vergrößerungsglases die Schriftzeichen der bekannten Marcabrun-Gedichte mit denen der neu entdeckten. Und je weiter er in den Linien der Buchstaben suchte, sie einander gegenüberstellte und die Charakteristik der Zeichen abwog, desto kälter wurde ihm, desto entsetzter war er, desto aggressiver wurde er, so daß seine alte, dickliche Wirtschafterin es kaum mehr wagte, ihm den Kaffee zu bringen.
»Das ist ja furchtbar«, flüsterte er und bedeckte die schmerzenden, überanstrengten Augen mit der rechten Hand, die zu zittern begonnen hatte. »Das ist ja grauenhaft. Sollte ich mich derart getäuscht haben? Mein Gott, wenn ja, bin ich erledigt, muß ich mich erschießen. Ganz Frankreich lacht sich tot über mich. Was mache ich nur?«
Langsam tastete er mit der Linken, die ebenfalls zitterte, zum Telefon, hob den Hörer ab, legte ihn auf die Tischplatte, wählte eine Nummer, nahm den Hörer wieder in die Hand und hielt ihn sich ans Ohr.
Saintine meldete sich.
»Henry«, sagte Bonnet mit gebrochener Stimme, »du mußt sofort zu mir kommen …«
»Was ist los?«
»Die Marcabrun-Lieder …«
Bonnet brach ab und überließ es Saintine, den einzig möglichen Schluß zu ziehen.
»Ich bin in dreißig Minuten bei dir, Julien.«
»Henry …«
»Ja?«
»Du hast doch eine Pistole?«
»Ja, wieso?«
»Bring sie mit.«
»Julien«, lachte Saintine gezwungen, »mach keine Witze.«
»Das ist kein Witz, das ist mein voller Ernst, Henry.«
»Du bist verrückt, Julien. In dreißig Minuten bin ich bei dir. Bis dahin unternimmst du nichts, verstanden!«
Saintine brauchte, bis er kam, fünfzig Minuten. Die Verzögerung war darauf zurückzuführen, daß er beim Untersuchungsrichter Rouvière vorbeifuhr und ihn mitbrachte. Die Begeisterung Bonnets darüber hielt sich verständlicherweise in Grenzen.
»Rouvière!« stieß er hervor, als er den Richter vor der Tür erblickte. »Was wollen Sie denn hier? Wer hat Sie verständigt?«
»Ich – wer sonst?« sagte Saintine, der zusammen mit Rouvière über die Schwelle trat.
Nachdem sie alle drei Platz genommen hatten, fuhr der Louvre-Direktor fort: »Ich schätze nämlich, daß hier ein Haftbefehl gebraucht wird.«
»Ein Haftbefehl?« rief Bonnet entsetzt. »Gegen mich?«
»Nicht gegen dich. Gegen den Fälscher.«
»Nun mal langsam«, ermahnte überraschenderweise ausgerechnet der gestrenge Rouvière den Louvre-Direktor zur Mäßigung. »In Deutschland gibt's ein Sprichwort: ›So schnell schießen die Preußen nicht.‹ Daran möchte ich Sie erinnern, Saintine. Sie haben mir zwar in der Metro einige Andeutungen gemacht, aber das genügt noch nicht. Wie heißt der vermutliche Fälscher?«
Diese Frage richtete Rouvière nicht mehr an Saintine, sondern an Bonnet, der antwortete: »André Tornerre.«
»Und er soll sechzehn Jahre alt sein?«
»Ja.«
»Wo wohnt er?«
»In Carpentras. Er ist aber nach hier unterwegs.«
»Schön, dann können wir ihn uns dann ja vorknöpfen. Vorher möchte ich aber noch eins von Ihnen wissen, Bonnet …«
»Ja?«
»Wer sagt Ihnen, daß dieser Tornerre die Dinger … wo sind sie übrigens? … gefälscht hat?«
Bonnet zeigte ihm sechs Pergamentbögen, die er nach dem Anruf bei Saintine verächtlich auf das Fensterbrett geworfen hatte. Rouvière musterte sie nur kurz, dann wiederholte er seine Frage: »Wer sagt Ihnen, daß Tornerre die gefälscht hat? Ich kann mir das nicht so ohne weiteres vorstellen.«
»Wer sollte es sonst getan haben?«
»Irgendeiner. Ein Erwachsener, möchte ich sagen, und kein sechzehnjähriger Knabe.«
»Tornerre hat nie einen anderen Namen im Zusammenhang mit der ganzen Sache erwähnt.«
»Das kann ihn in meinen Augen sogar entlasten. Er hat die Bögen irgendwo aufgestöbert – weiß der Teufel, wo – und weiß selbst gar nichts von Fälschungen. Er hält sie für echt. Dann wäre es schwer, ihm das Gegenteil zu beweisen.«
»Also kein Haftbefehl«, sah Saintine seufzend ein.
»Was allerdings unerläßlich ist«, sagte Rouvière und richtete diese Worte an Bonnet, »und Ihnen wohl am wenigsten
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