Gesang des Drachen
oder anderen heimtückischen Geschöpfen wimmeln sollte, würde das für den Verfluchten keine Gefahr darstellen. Für Naburo jedoch sah die Lage anders aus. Er hatte nicht Möglichkeit, das Wasser zu verdrängen und einen undurchdringlichen Schutzschild um sich zu legen.
»Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr«, murmelte er. Sein Bruder hatte diesen Spruch geliebt, wie er alles liebte, was aus der Menschenwelt kam.
Naburo sammelte seine Konzentration. Dann setzte auch der General seinen Weg fort: Schritt für Schritt über dem spiegellosen Wasser. So, wie es in Bóya Brauch war.
Sie trafen sich auf der anderen Seite wieder. Beide waren stur geradeaus gegangen. Der General kam zuerst an, was er Spyridon hoch anrechnete. Der Ewige Todfeind musste sich zusammengerissen haben.
Während Naburo Holz für ein Feuer zusammensuchte, da er auf der versprochenen Rast beharrte, starrte Spyridon über die türkisblaue Fläche des Sees. Ein leichter Wind kräuselte die Oberfläche. Am Horizont kündigte ein violettschwarzer Streifen die Nacht an.
»Es war ein trauriges Gefühl, hindurchzugehen«, brach Spyridon das Schweigen, während das Feuer lichterloh brannte und einen hellen Schein in die hereinbrechende Dunkelheit warf.
»Mir ging es ähnlich.« Naburo spürte dem Gefühl nach, das ihn während des Marsches über den See befallen hatte. »Als ob das Wasser kein Wasser wäre.«
»Es sind Tränen. Tränen der Königin vielleicht, aber auf jeden Fall viele Tränen dieses Reiches. Und zwar solche, die niemals geweint wurden, obwohl sie hätten geweint werden sollen.«
Sie schwiegen erneut. Aus dem hohen Gras stiegen leuchtende Pünktchen auf – Glimmerelfchen, die es in manchen Teilen der waldigen Gegenden gab. Sie waren nicht viel größer als die Funken des Feuers und näherten sich neugierig, wie es ihre Art war.
Naburo erinnerte sich, dass er an einer Stelle nahe der Seemitte die Tränen gesehen hatte, wie sie mitten in der Luft entstanden und hinunter in die Tiefe tropften. »Es gibt wahrhaft viele ungeweinte Tränen in Innistìr.«
»Es waren nur unsere.« Spyridon schenkte ihm ein schiefes Lächeln und machte eine ausladende Geste, die das Gewässer umfasste. »Meinst du nicht, dass wir zwei das in unserem langen Leben hinbekommen hätten?«
»Vielleicht.« Unvermittelt dachte Naburo an Kariyana und daran, wie glücklich er war, Hanin gefunden zu haben.
Es tat gut, am Feuer zu sitzen und sich auszuruhen. Naburo war froh, dass seine Energie zwar geschwächt, aber nicht vollständig verbraucht war. In Innistìr konnte er nie mit Sicherheit sagen, wie weit seine Magie reichte. Vielleicht waren es die Tränen zu seinen Füßen gewesen, die ihm zusätzliche Kraft geschenkt hatten – obwohl er müde war, fühlte er sich nicht völlig zerschlagen.
Der Rauch roch angenehm, und die Wärme half, sich zu erholen. Das Feuer brannte langsam nieder, doch an Schlaf konnte Naburo nicht denken. Er misstraute Spyridon und dem Fluch. Wenn er die Augen zu lange schloss und unachtsam wurde, würde der Ewige Todfeind vielleicht ohne ihn weiterziehen.
Er musterte den hochgewachsenen, noch immer jung wirkenden Elfen und stellte sich einmal mehr all die Fragen, die er auf der Cyria Rani nicht laut zu stellen gewagt hatte. Damals waren sie einander fremd gewesen. Inzwischen hatten sie einiges zusammen erlebt, und obwohl sein Respekt vor Spyridon nach wie vor erhalten geblieben, wenn nicht sogar gewachsen war, konnte er es vielleicht wagen ...
»Glotz mich nicht an wie ein fliegendes Schwein und frag endlich«, unterbrach Spyridon seine Gedanken. »Bevor es dich von innen her zerreißt wie einen Blähkäfer.«
Unbehaglich berührte Naburo sein Handgelenk an der Stelle, an der bis vor wenigen Tagen das vertrocknete Cairdeas Kariyanas an seiner Haut gelegen hatte. »Es ist nicht höflich, neugierig zu sein. Ich möchte deine Ehre wahren.«
Spyridon rang sich ein Lächeln ab. »Ihr aus Bóya. Immer auf die Form bedacht, was?«
»Du würdest mir auf die meisten Fragen ohnehin keine Antworten geben, oder? Also warum kostbaren Atem verschwenden?«
»Wenn es um mich und Yevgenji geht, hast du sicher recht.« In einer langsamen Drehung hob Spyridon den Kopf und sah in die Flammen. Die Glimmerelfchen waren herangeflogen und umschwirrten den hellen Schein des Feuers wie winzige Schmetterlinge. »Aber das ist nicht alles, was dich interessiert, oder?«
Ertappt zuckte Naburo zusammen. »Bin ich so leicht zu
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