Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
Janine, wenn ich ganz ehrlich bin, kann ich sogar verstehen, dass du weggelaufen bist. Es war sehr dumm, was Kazim da gesagt hat. Aber es wird dir noch öfter in deinem Leben passieren, dass Leute dumme Sachen zu dir sagen. Da wirst du auch nicht immer weglaufen können, ohne dass es Konsequenzen hat. Was willst du denn eigentlich mal werden?«
»Ärztin«, sagte ich wie aus der Pistole geschossen. Ärztin war mein Lieblingsberuf.
»Mhm«, er überlegte. »Na ja, dann stell dir vor, ein Patient hat Husten. Du verschreibst ihm einen Hustensaft, aber nach drei Tagen kommt der Patient wieder und hat immer noch Husten. Vielleicht, weil er keine Lust hatte, sich ins Bett zu legen, wie du ihm geraten hast. Du kannst den Patienten sowieso nicht leiden und dann sagt der auch noch: ›Das war die falsche Medizin, die Sie mir da verschrieben haben! Die wirkt ja gar nicht! Was sind Sie denn für eine Ärztin?‹ Was würdest du denn dann machen?«
Das war nicht schwer: »Na, ich würde ihm das noch mal erklären. So lange, bis er es verstanden hat. Dass er sich auch ins Bett legen muss und Orangensaft und Tee trinken und warme Socken anziehen soll.«
»Genau! Du würdest erst mal mit ihm reden. Das hättest du mit Kazim auch machen können. Reden bringt einen meistens am weitesten. Egal, wer schuld an einem Streit ist.« Der Direktor lächelte.
Ich nickte. Es hatte jetzt keinen Sinn, zu erklären, dass ich ja gar nicht darüber nachgedacht hatte und dass mir gar keine Wahl geblieben war, als ganz schnell wegzulaufen.
Der Direktor sagte noch, Kazim hätte das mit meinen Eltern nicht so gemeint. Er hätte ihm versprochen, sich heute bei mir zu entschuldigen. Es täte ihm wirklich leid, das hätte er ihm versichert. Dann schickte er mich zurück in meine Klasse. Wenigstens hatte ich keine Strafe bekommen.
Als ich zu unserem Klassenzimmer ging, tippte mir von hinten jemand auf die Schulter.
»Hallo, Janine«, sagte Kazim schüchtern. »Kann ich kurz mit dir reden?«
Ich blieb stehen, schaute ihn voller Verachtung an und sagte kein Wort. Blöder Idiot!
»Es tut mir leid, was ich gestern gesagt habe! Entschuldigung!« Kazim war ganz rot angelaufen. Er streckte mir seine Hand entgegen. Sie zitterte ein bisschen.
Ich sah ihm in die Augen.
»Komm schon, Janine, das war echt nicht so gemeint. Tut mir echt leid.« Seine Hand zitterte immer noch vor mir.
Ich ignorierte sie und sagte eiskalt: »Ich möchte mich jetzt nicht mit dir vertragen. Es ist mir total egal, ob es dir leid tut. Es war völlig daneben, was du gesagt hast. Lass mich in Ruhe!«
Ich drehte mich um und ging zu unserem Klassenzimmer. Mit Kazim war ich fertig. Aber immerhin hatte ich mit ihm geredet, da konnte sich jetzt keiner beschweren.
Teddyjacke
Fehler sind das Tor zu neuen Entdeckungen.
JAMES JOYCE
»Mama, kann ich so eine Teddyjacke haben?«, ich hielt ihr ein Bild hin, das ich aus einem Anzeigenblatt von Karstadt herausgerissen hatte. Darauf sah man ein älteres Mädchen, das eine schneeweiße, superkurze Jacke trug. Die Jacke hatte ein breites Bündchen, betonte die Taille und sah unglaublich flauschig und bauschig aus. Durch den Saum der Kapuze war ein neonfarbenes Band gezogen worden, an dessen Enden silberne Perlen baumelten. Die Jacke war traumhaft schön!
Mama sah von den Strohsternen auf, die wir gerade bastelten, und blickte auf das Foto.
»Das ist nicht dein Ernst, Janine! Das ist ja eine scheußliche Jacke!«, rief sie und verzog angewidert das Gesicht.
Mist, das würde schwierig werden.
»Aber das ist total modern, Mama! Silvia hat auch so eine Jacke. Außerdem ist sie auch sehr warm und hat eine Kapuze«, versuchte ich, Mama zu überzeugen. Vernünftige Argumente funktionierten meistens.
»Nein, Schatz, tut mir leid, aber diese Jacke werden wir nicht kaufen. Sie ist viel zu kurz, da holst du dir noch eine Nierenentzündung. Wir wollten dir doch eine schöne, warme Daunenjacke kaufen, so wie Kerstin eine hat!«
Ich war verzweifelt. Ich fand diese Jacke nicht nur wunderschön, ich liebte diese Jacke! Ich musste sie einfach haben. Ich versuchte es noch einmal:
»Ich will aber diese Teddyjacke! Die ist so cool! Bittebitte! Ich wünsche sie mir so sehr!«
»Janine, es tut mir wirklich leid, aber diese Jacke ist nicht nur unpraktisch und zu kalt, sondern auch noch wirklich scheußlich. Nächste Woche fahren wir in die Stadt und kaufen dir eine schöne Daunenjacke. Du kannst dir die Farbe und alles aussuchen. Nur nicht diese Jacke. Ende
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