Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
der Diskussion. Und jetzt wirf das Bild weg und bastle deinen Stern fertig!«
»Aber …«, begann ich noch einmal.
»Janine!«, Mama hatte ihren drohenden Ton angeschlagen. »Ende der Diskussion, hab ich gesagt, und das hab ich auch so gemeint. Also: Setz dich hin und gib Ruhe!«
»Oh, Mann. Nie darf ich mir mal was selber aussuchen …«, murmelte ich. Das war mal wieder alles total ungerecht. Schließlich ging es hier um eine Jacke für mich , nicht für Mama. Sie sollte sie ja gar nicht anziehen, was spielte es da für eine Rolle, ob sie ihr gefiel?
»Du solltest dich langsam fertig machen, deine Mutter und dein Vater kommen in einer halben Stunde, um dich abzuholen«, sagte Mama nach einer Weile.
»Helmut«, sagte ich. Ich hasste es immer noch, wenn jemand ihn »meinen Vater« nannte. Vor eineinhalb Jahren hatten sie meinen Blutstropfen mit seinem verglichen. Es war also schon länger bewiesen, dass er mein leiblicher Vater war. Aber ich fand ihn immer noch blöd. Vorher wollte er nichts mit mir zu tun haben. Seit wir das Ergebnis von dem Test kannten, war er plötzlich total nett zu mir. Wieso? Ich war doch die Gleiche wie vorher. Vor über einem Jahr hatten meine leiblichen Eltern geheiratet. Und jetzt musste ich immer »Vati« zu ihm sagen. Ich war in der sechsten Klasse auf dem Gymnasium und elf Jahre alt. Ich brauchte jetzt echt keinen neuen Vater mehr.
»Nina, versprich mir, dass du keine Probleme machst am Wochenende, ja?«
»Mhm«, ich nickte, stand auf und ging in mein Zimmer, um meine Sachen fürs Wochenende zusammenzusuchen.
Eine halbe Stunde später klingelte es an der Tür. Ich machte auf und da stand meine Mutter. Sie hatte eine Bluse mit einem Muster an, das aussah wie ein Tigerfell. Aber aus ganz dünnem Stoff. Darüber ein Jackett und dazu einen kurzen, engen Rock aus schwarzem Leder und hohe Schuhe. Ihre Haare waren schon wieder länger geworden und glänzten. Sie lächelte.
»Hallo, Janine. Bist du fertig? Wollen wir los?«
Ich verabschiedete mich von Mama. Es war Freitagnachmittag, Papa würde erst in einer Stunde aus der Arbeit kommen, und Kerstin und Stefan waren oben in ihren Zimmern.
»Wir fahren heute mit dem Bus, dein Vater muss noch ein paar Erledigungen machen. Wir treffen ihn gleich zu Hause«, erklärte sie. Wir gingen los zur Bushaltestelle. Im Bus setzten wir uns nebeneinander. Als wir uns gerade hingesetzt hatten, sagte sie:
»Ach Gott, ich muss ja noch für uns stempeln! Bleib du hier sitzen, ich gehe schnell nach vorne.«
Obwohl der Bus so ruckelte, hatte Mutti überhaupt kein Problem, auf ihren hohen Schuhen zu laufen. Ich hatte es bei ihr zu Hause mal ausprobiert und konnte mir gar nicht vorstellen, wie man in hohen Schuhen so laufen konnte. Nur ganz leicht berührte sie die Haltestangen und die Sitze, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und ich konnte ihre langen, roten Fingernägel sehen. Bei jedem Schritt wackelte ihr Po ein bisschen. Zwei Reihen vor uns saßen zwei ältere Jungen, vielleicht so alt wie Kerstin, achtzehn oder neunzehn. Der eine stieß den anderen mit dem Ellenbogen an und deutete auf meine Mutter. Sie grinsten beide. Als meine Mutter an dem Entwerter angekommen war, schüttelte sie ihre langen blonden Haare aus dem Gesicht, steckte nacheinander beide Fahrkarten in den Schlitz und drehte sich dann wieder um. Als sie an der Bank mit den beiden älteren Jungen vorbeikam, sagte der eine von ihnen etwas zu ihr. Ich konnte nicht hören, was, aber meine Mutter lächelte kurz. Auch die anderen Männer im Bus hatten ihr Blicke zugeworfen. Hoffentlich würde ich auch mal so aussehen! Hoffentlich würden die Männer mir auch mal so nachschauen! Meine Mutter war die einzige Frau, die ich kannte, die alle immer so anschauten. Wenn ich mit Mama im Bus fuhr, passierte das nie. Ich liebte Mama, aber sie war eben nicht so hübsch wie meine Mutter. Sie setzte sich wieder neben mich.
»Und, was hast du heute so gemacht?«, fragte meine Mutter.
»Wir haben Strohsterne gebastelt. Nächste Woche ist in der Kirche ja der Adventsbasar«, sagte ich. In vier Wochen war Weihnachten, und Mama, Stefan und ich bastelten schon seit einer Woche. Mama konnte sehr gut basteln. Ihre Sterne wurden auf dem Basar verkauft. Der Erlös wurde dann gespendet. Die Sterne von Stefan und mir waren nur manchmal schön genug für den Basar. Wenn wir uns sehr viel Mühe gaben und Mama ein bisschen half. Aber meistens hatten wir nicht so viel Geduld. Dann hängte Mama sie an den
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