Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
wie alles funktionierte und was in den nächsten Tagen geplant war. Man konnte hier jede Menge Sport machen, z. B. Segeln, Surfen, Volleyball und Radfahren. Ich war erleichtert, das klang alles gut und würde schon nett werden.
Tagsüber erkundeten Tanja und ich den Strand – es war fast wie am Meer! –, danach machten wir beim Volleyballturnier mit. Abends hatten die Betreuer einen Grillabend mit Lagerfeuer organisiert. Nach dem Essen saßen wir alle am Lagerfeuer. Andi, einer der Betreuer, hatte eine Gitarre dabei und spielte ein paar Lieder. Groß ist der Herr, Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer, Kumbaya My Lord … Zuerst hielten sich alle zurück, aber irgendwann gab es lauten Protest, als er schon wieder ein Kirchenlied anstimmte. Das waren zwar alles einigermaßen moderne Kirchenlieder und Gospelsongs, aber wir wollten viel lieber was Poppiges hören. Andi überlegte und fing an: On a dark desert highway, cool wind in my hair … Na ja, poppig konnte man Hotel California jetzt auch nicht gerade nennen. Das Lied spielte Kerstin auf ihrer Stereoanlage ungefähr seit meiner Geburt rauf und runter. Weil ich jahrelang das Zimmer neben ihrem bewohnt hatte, hing es mir zum Hals raus.
Tanja stupste mich an und flüsterte: »Hey, Janine! Nicole, Evelyn und ein paar von den Jungs haben zwei Flaschen Wein und sind runter zum Strand gegangen. Hier ist es doch voll öde, sollen wir nicht mitgehen?«
Ich überlegte. Hier war es wirklich ein bisschen öde. Nicole und Evelyn waren schon sechzehn und wirkten ziemlich reif und erfahren. Was die wohl vorhatten? Ich stand auf.
Tanja und ich taten so, als würden wir zum Haus gehen. In einem weiten Bogen außerhalb des Lichtscheins bewegten wir uns unbemerkt in Richtung See. Als wir an den Steinstufen angekommen waren, die von der Seepromenade zum Strand hinunterführten, sahen wir plötzlich Nicole und einen der Jungs im Schatten der Mauer stehen. Sie waren alleine, wahrscheinlich waren die anderen schneller gegangen und schon weiter voraus. Sie lehnten an der Steinmauer, die den Strand von der etwas höher gelegenen Promenade trennte. Und knutschten.
Ich hielt Tanja am Arm fest und legte den Finger an die Lippen. Sie folgte meinem Blick und begann zu grinsen. Der Junge hatte seine Hand unter Nicoles T- Shirt geschoben.
Eigentlich war mir schon klar gewesen, worum es bei unserem kleinen Ausflug zum Strand ging. Ich war ja kein Baby mehr. Aber erst jetzt begriff ich, was es wirklich bedeutete: Wenn ich hier Alkohol trank oder mit einem der Jungen rummachte, würde Mama mit ihren Befürchtungen recht gehabt haben! Das war doch genau das, was sie von mir dachte!
»Ich geh wieder zurück. Ich mag sowieso keinen Alkohol«, flüsterte ich Tanja ins Ohr und drehte mich um. Sie kam mir hinterher.
»Hey, lass uns doch wenigstens mal schauen, was die anderen machen!«
»Nee, lass mal. Ich hab keine Lust mehr. Außerdem bin ich total müde.«
Tanja maulte zwar, kam aber schließlich mit. Wir setzten uns noch ein bisschen zu den anderen ans Lagerfeuer. Mittlerweile war sogar die Musik besser geworden.
Nicht zuletzt wegen Tanja hatte ich einen tollen Urlaub. Wir spielten jeden Tag Volleyball, gingen viel schwimmen und machten jede Menge Blödsinn. Aber ich trank den ganzen Urlaub über keinen einzigen Schluck Alkohol und ignorierte alle Annäherungsversuche.
Mauern fallen
Die einzige Freude auf der Welt ist: Anfangen.
Es ist schön zu leben. Weil leben anfangen ist,
immer, in jedem Augenblick.
CESARE PAVESE
Nach den Ferien begann die zehnte Klasse, mein letztes Schuljahr auf der Realschule. Was Mama nicht davon abbrachte, weiterhin die strengsten Regeln in meinem ganzen Freundeskreis aufzustellen. Ich musste nach wie vor spätestens um Punkt zehn Uhr zu Hause sein. Waren die Klamotten zu kurz, zu modisch oder sonst wie falsch, gab es Zoff. Und das war oft. Stefan und auch Kerstin waren zunehmend genervt von unseren Streits, die sich immer wieder um das Gleiche drehten.
Mit dieser ganzen Klamottenthematik wäre meine leibliche Mutter sicher cooler umgegangen als Mama, dachte ich manchmal. Gleichzeitig verbot ich mir den Gedanken. Meine leibliche Mutter wurde mir schließlich immer fremder, je länger ich sie nicht sah. Sie gehörte nicht mehr zu meinem Leben. Daran würde sich nichts mehr ändern und daran sollte sich auch nichts ändern. Trotzdem wusste ich tief in mir drin, dass ich ihr ähnlich war. Das verwirrte mich. Am besten war es, gar nicht an sie zu
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