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Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)

Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)

Titel: Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janine Kunze
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denken.
    Mama hatte die Hoffnung immer noch nicht ganz aufgegeben, dass ich vielleicht doch noch Abitur machen wollte. Aber ich reagierte allergisch auf das Thema, also redeten wir auch darüber nicht mehr.
    So vergingen der August, der September und der Oktober. Mama versuchte immer wieder, mich dazu zu bringen, mit ihnen die Tagesschau anzusehen. Sie sagte, wer erwachsen werden wolle, müsse auch wissen, was in der Welt geschah. Aber ich fand Nachrichten gucken ziemlich langweilig und sagte zu Mama:
    »Ganz ehrlich, warum soll ich mir das anschauen? Da kommt sowieso nur schreckliches Zeug, ich will das alles überhaupt nicht sehen, da krieg ich bloß schlechte Laune.«
    Manchmal ging ich nach dem Abendessen trotzdem mit ihr und Papa ins Wohnzimmer und guckte Nachrichten, aber meistens ging ich einfach in mein Zimmer, wenn ich nicht sowieso später nach Hause kam, weil ich beim Training war.
    Mama, Papa und Kerstin redeten jetzt viel über die Veränderungen in der DDR . Ich war noch nie dort gewesen, aber wir hatten Verwandte in der Nähe von Dresden, denen Mama immer Pakete schickte.
    An einem Abend Anfang November hatte ich nichts Besseres zu tun und schaute mit Mama, Papa und Stefan Tagesschau. Es war ein seltener Moment, dass wir alle so friedlich zusammensaßen. Aber beim Fernsehen musste man ja auch nicht miteinander reden.
    Gleich am Anfang wurde die Deutschlandkarte gezeigt. Links die große grüne Bundesrepublik, rechts die kleine grüne DDR mit einem Fleck namens Ost-Berlin. Darunter stand DDR öffnet Grenze . Der Sprecher erzählte etwas von Visa und Ausreise und einer Pressekonferenz. Das klang alles ziemlich kompliziert.
    »Mama, was heißt das denn jetzt für die Leute in der DDR ?«, fragte ich.
    »Psst! Ruhe, ich muss zuhören! Das ist jetzt wichtig!«, zischte Mama.
    Danach folgte ein Bericht über eine Pressekonferenz, auf der ein Mann mit Lesebrille ziemlich rumstotterte. Zum Schluss sagte der Sprecher des Beitrags: »Die Mauer soll über Nacht durchlässig werden.«
    »Das gibt’s doch gar nicht!«, flüsterte Papa.
    »Warum denn, was ist denn jetzt?«, fragte ich noch mal.
    »So wie ich das verstehe, wird die DDR die Grenzen öffnen«, erklärte Mama. Dann starrte sie wieder fassungslos in den Fernseher und sagte: »Das kann ich gar nicht glauben!«
    »Was ist dann mit der Mauer in Berlin?«, fragte Stefan.
    »Ich weiß es nicht, Stefan, aber es könnte sein, … na ja, das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen …«, unterbrach sich Papa. Er war mindestens genauso gebannt vom Geschehen wie Mama.
    »Heißt das, die Mauer ist bald weg?«
    »Das wäre ein Ding, das wäre …«, sagte Mama, mehr zu sich selbst.
    Den Rest der Tagesschau ging es um die Flüchtlingswelle, das Reisegesetz, freie Wahlen und irgendeine Parteikonferenz. Vielleicht hatte Mama doch recht gehabt: Die Hintergründe verstand man wohl tatsächlich besser, wenn man jeden Abend Nachrichten schaute. Ich nahm mir vor, jetzt öfter Tagesschau zu gucken. Auch wenn ich es langweilig fand, wollte ich schon verstehen, was passierte. Von den DDR -Flüchtlingen, die über Ungarn und die Tschechoslowakei nach Deutschland kamen, hatte ich natürlich schon gehört. Aber ich verstand nicht, warum die DDR dann nicht gleich die Grenzen zu uns öffnete.
    Nach der Tagesschau kam ein Fußballspiel, das Papa und Stefan angucken wollten. Ich ging nach oben und hörte Musik. Mama telefonierte mit Oma und versuchte rauszufinden, ob es bei unseren Verwandten in der DDR etwas Neues gab.
    Am nächsten Morgen beim Frühstück waren Mama und Papa ganz aufgeregt. Sie hatten noch spätabends ferngesehen und hörten die ganze Zeit Deutschlandfunk. Die Mauer war tatsächlich gefallen! Beziehungsweise, die Mauer stand zwar noch, war aber keine Grenze mehr. Wer wollte, konnte nun einfach die Grenze passieren!
    Als wir mittags aus der Schule kamen, schalteten wir sofort den Fernseher ein. Im Mittagsmagazin konnte ich endlich sehen, was in der Nacht passiert war und wovon alle in der Schule geredet hatten: jubelnde Menschenmassen, die über die Grenzübergänge in Berlin strömten, lachende und weinende Menschen, die sich in den Armen lagen. Hupende Trabis, aus denen Hände rauswinkten, und Menschen, die lachend auf die Autodächer klopften. Alle Leute, die interviewt wurden, lachten und freuten sich. Sie sagten, sie wollten nur mal auf dem Ku’damm ein Bier trinken. Dann kamen die Bilder, von denen in der Schule alle gesprochen hatten: Die Berliner Mauer

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