Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
– voll von Menschen! Die Leute zogen andere hinauf und alle, die oben standen, jubelten und riefen »Wir sind das Volk!« und »Die Mauer muss weg!«. Obwohl ich niemanden von den Menschen dort kannte, musste ich plötzlich weinen. Das war einfach so ergreifend! Die Leute waren so lange eingesperrt gewesen und plötzlich waren sie frei! Mama nahm meine Hand und wir saßen schniefend und gleichzeitig lachend vor dem Fernseher. Es war so schön, dass es mal nicht um unsere Probleme zu Hause ging. Zum ersten Mal seit Langem fühlte ich mich Mama wieder nah und konnte wieder mit ihr lachen.
Zwischendrin klingelte immer wieder das Telefon. Alle möglichen Verwandten riefen an und schließlich lud Mama alle ein, abends zu uns zu kommen. Onkel Jochen, Tante Ingrid, meine beiden Cousins und Oma Anna kamen gegen halb sieben zu uns. Mama hatte einen großen Topf Linsensuppe mit viel Speck, Gemüse und Würstchen gekocht, dazu gab es Schnittchen mit westfälischem Schinken und Zwiebelmettbrötchen. Wir setzten uns alle zusammen vor den Fernseher im Wohnzimmer und sahen uns zuerst die Heute-Nachrichten und danach die Tagesschau an. Tante Ingrid und Mama weinten immer wieder und als die Tagesschau vorbei war, erzählten die Erwachsenen von ihren Erinnerungen. Papa und Onkel Jochen konnten sich noch genau daran erinnern, als vor 28Jahren die Mauer gebaut worden war. Das war für alle beängstigend gewesen. Papa sagte, er hätte nie gedacht, dass das alles einmal so ausgehen könnte. Ganz ohne Krieg und Gewalt. Papas Vater war im Zweiten Weltkrieg gestorben. Meine Eltern hatten eine ganz andere Jugend gehabt als ich. Das wurde mir heute mal wieder richtig bewusst.
Ich fragte, ob ich noch zu Silvia durfte, wir hatten heute Nachmittag telefoniert und uns verabredet. Oh Wunder, ich durfte! In der Tagesschau hatten sie gesagt, dass in allen deutschen Großstädten gefeiert wurde, und natürlich wollten wir gucken, was auf den Straßen los war. Ich sah Silvia und ein paar andere Freundinnen aus der Tanzgruppe schon auf der Bank am Spielplatz sitzen. Ich war spät dran, und sie wussten, dass ich hier sowieso vorbei musste auf dem Weg zu Silvia, sie hatten also auf mich gewartet. Es war schon zu spät, um noch nach Köln in die Innenstadt zu fahren, aber wir beschlossen, wenigstens zur Frechener Hauptstraße zu fahren und zu sehen, was dort so los war. Für einen Novemberabend waren tatsächlich viele Leute auf der Straße. Ein paar Autos fuhren mit offenen Fenstern, aus denen laute Musik schallte, und hupten. Ich hatte das Gefühl, dass eine ganz besondere Stimmung herrschte. Das Freiheitsgefühl der Leute aus dem Fernsehen hatte sich irgendwie auf alle anderen übertragen. Oder kam mir das nur so vor? Wir setzten uns in ein Café und bestellten Kirsch-Bananensaft.
»Hallo, Janine!«, sagte plötzlich eine Stimme hinter mir.
Ich drehte mich um und konnte es nicht fassen: Christian Engels stand hinter meinem Stuhl und grinste! Wo kam denn der jetzt plötzlich her? Und warum sprach er mich an? Bis zu diesem Moment hätte ich geschworen, dass er meinen Namen gar nicht kannte.
Christian war drei Jahre älter als ich und der totale Mädchenschwarm. Ich kannte ihn vom Sehen. Jeder kannte ihn mindestens vom Sehen, weil er so wahnsinnig gut aussah. Er spielte mit Marco, Silvias großem Bruder, Fußball. Seine schwarzen Haare trug er wie meistens zurückgegelt, und er hatte leuchtende blaue Augen.
Mein Hirn war wie leergepustet. Nach einer Ewigkeit sagte ich:
»Hallo, Christian! Wo kommst du denn plötzlich her?«
Er sagte, dass er mit ein paar Kumpels in der Innenstadt gewesen war. Sie waren mit dem Auto über die Ringe gefahren. Es waren richtig viele Leute unterwegs gewesen, erzählte er.
»War total geil!«
Das glaubte ich ihm sofort.
»Und, was hast du gemacht?«, wollte er wissen.
Ich überlegte fieberhaft. Linsensuppe und Zwiebelmettbrötchen mit Onkel Jochen und Tante Ingrid war einfach zu uncool, um es jemandem wie Christian Engels zu erzählen. Mit Mama, Papa und dem kleinen Bruder vor dem Fernseher war auch nicht viel besser …Vielleicht, wenn ich Mama, Papa und den kleinen Bruder einfach wegließ?
»Äh, ich hab ferngesehen. Ich wollte mir das mal alles ausführlich angucken. Die ganzen Sachen aus Berlin und so, mit der Mauer und den Grenzen. Tagesschau und Heute.«
Er nickte und sah mir in die Augen. »Ja, das ist echt der Hammer, was da gerade passiert.«
Ich war drei Jahre jünger als er, aber plötzlich hatte ich
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