Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
wenn ich es am wenigsten verdient habe,
denn dann brauche ich es am meisten.
ANONYM
»Da hast du dir aber einen Schönling ausgesucht«, war Mamas einziger Kommentar zu der ganzen Sache am nächsten Tag. Es gab keine Entschuldigung, keine Erklärung, gar nichts. Zwischen ihr und mir herrschte Eiszeit. Wir redeten nur das Allernötigste miteinander. Das Schweigen zwischen uns fühlte sich schrecklich an. Wenn ich mittags aus der Schule nach Hause kam, spürte ich eine bleierne Schwere, sobald ich die Tür aufmachte. Ich wusste, wenn wir darüber reden würden, würden wir uns bloß anschreien und der ganze Mist seit dem verlorenen Gerichtsverfahren würde wieder hochgespült. Dass ich erwachsen und selbstständig wurde, schien Mama immer mehr Angst zu machen, je älter ich wurde. Ich wusste, dass sie fast zerbrach unter der Verantwortung, die auf ihr lastete. Und zerrissen wurde in dem Bemühen, die Familie zusammenzuhalten. Aber das war völlig unnötig! Warum konnte sie mir nicht einfach vertrauen? Ich machte doch gar nichts Schlimmes. Ich war einfach ein ganz normaler Teenager.
Mehr als je zuvor fühlte ich mich eingeengt, unverstanden und allein. Passte ich wirklich hierher? War das wirklich noch meine Familie, mein Zuhause?
Abgesehen von diesen düsteren Gedanken war ich stinksauer. Wie hatte sie mich so blamieren können? Besonders peinlich war mir die ganze Sache vor Christian und seinen Freunden. Sie waren ja viel älter und mussten sich von ihren Eltern so etwas nicht mehr gefallen lassen. Ich kam mir vor wie ein Baby.
Am Montag, als ich Christian an der Bahn traf, sagte er, ich solle mir keine Gedanken machen, das müsse mir nicht peinlich sein. Für unsere Eltern würden wir schließlich nichts können.
»Seine Eltern kann man sich nicht aussuchen. Die sind eben, wie sie sind.«
Ich nickte. Ich hatte keine Lust, ihm zu erklären, dass die Sache bei mir etwas anders lag. Vielleicht wusste er das sowieso schon längst. Wir hatten zwar noch nicht darüber geredet, dass ich ein Pflegekind war, aber es war ja auch kein Geheimnis. Die Leute sprachen mich nicht darauf an, aber ich wusste, dass die meisten es wussten. Ob Christian es wusste?
»Wann sehen wir uns wieder?«, fragte er beim Abschied. Darüber hatte ich auch schon nachgedacht. Ihn zu mir nach Hause einzuladen, war im Moment komplett unmöglich. Mama durfte noch nicht mal mitkriegen, dass wir uns trafen. Was sie von Christian hielt, hatte sie mir schließlich mehr als deutlich gemacht. Zu ihm nach Hause würde sie mich niemals gehen lassen – undenkbar. Ich überlegte.
»Mittwoch Nachmittag am Klettergerüst?«
Etwas Besseres fiel mir einfach nicht ein. Immerhin lag der Spielplatz etwas abseits und war ziemlich weitläufig. Das Klettergerüst stand ganz am Rand und man war dort meistens ungestört. Christian war einverstanden. Leider war heute erst Montag. Noch zwei Tage … Bis es so weit war, versuchte ich, ganz normal weiterzumachen.
Am Nachmittag fuhr ich mit der Bahn zum Leichtathletiktraining. Der Sportplatz war nur zwei Stationen entfernt und eigentlich hatte ich laufen wollen. Aber ich war spät dran und die Bahn kam genau in der Sekunde, als ich an der Haltestelle vorbeiging. Da konnte ich auch schnell reinspringen und die zwei Haltestellen fahren. So würde ich ein bisschen Zeit sparen. Ich blieb an der Tür stehen und stellte meinen Rucksack auf den Boden.
»Den Fahrschein, bitte!«
Ich zuckte zusammen, als ich die Stimme hinter mir hörte. Mist! Daran hatte ich ja gar nicht gedacht! Meine Monatskarte galt nur von zu Hause in Richtung Innenstadt, zur Schule. Unsere Haltestelle war die letzte innerhalb der Zone, für die mein Schülerticket galt, der Sportplatz lag zwei Stationen weiter stadtauswärts. Da ich so selten mit der Bahn in die andere Richtung fuhr, hatte ich überhaupt nicht daran gedacht, mir ein Ticket zu kaufen! Mir wurde heiß. Mit zitternden Fingern fischte ich meine Monatskarte aus dem Portemonnaie. Vielleicht fiel es dem Kontrolleur ja gar nicht auf?
Er nahm die Monatskarte und drehte sie um. Dann sah er mich an.
»Mhm. Die gilt aber nur bis zu der Station, an der du zugestiegen bist. Ab hier musst du einen extra Fahrschein lösen.«
»Ach ja? Das wusste ich ja gar nicht«, versuchte ich mein Glück weiter. Aber ich war eine schlechte Lügnerin und das merkte der Kontrolleur sofort.
»Erzähl keinen Kappes, Fräulein. Du fährst schwarz, und das weißt du auch!«
An der nächsten Station musste ich mit ihm
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