Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
Verhandlungsbasis. Die Bundesregierung benötigte ihre Konzessionsmasse in der Währungsfrage nun vor allem für die Zustimmung der europäischen Partner zu einer schnellen Wiedervereinigung. Vor dem Straßburger EG-Gipfel am 8. und 9. Dezember hatte der Bundeskanzler signalisiert, dass er – entgegen seinen ursprünglichen Vorgaben – mit einer Einberufung der Regierungskonferenz für die Wirtschafts- und Währungsunion im Dezember 1990 einverstanden sei. Indem die Bundesregierung den französischen Prioritäten entgegenkam, setzte sie ein Signal für ihre Beteiligung am Fortgang des europäischen Einigungsprozesses, und in Latche zu Beginn des Jahres 1990 gab Kohl der französischen Seite neuerliche Rückversicherungen. Doch war das Verhältnis zwischen Wirtschaftsund Währungsunion einerseits und politischer Union andererseits noch immer ungeklärt. Das deutsch-französische Tandem geriet mit dem deutschen Wiedervereinigungsprozess zunächst außer Tritt.
Deutsche Sorgen trieben dabei nicht nur die französische Politik um. Vielmehr kursierte auch in den kleineren Mitgliedsstaaten trotz aller Beteuerungen Kohls die Befürchtung, Bonn werde sein europapolitisches Interesse verlieren. Zugleich stieß Jacques Delors, der Präsident der EG-Kommission, in der Sorge vor einer nationalstaatlichen Rückwendung der Staaten Europas nach dem Ende des Ost-West-Konflikts sowie einer überstürzten Ausweitung der EG nach Osten, im Januar 1990 erneut die Frage einer politischen Union Europas an. Mitterrand griff diese Initiative auf, über die schließlich, nach vielfältigem Hin und Her, ein Kompromiss zwischen Elysée-Palast und Kanzleramt gefunden wurde: In einem gemeinsamen Schreiben an den EG-Ratsvorsitzendenschlugen Kohl und Mitterrand unter dem Datum des 18. April vor, «den politischen Aufbau des Europas der Zwölf zu beschleunigen», parallel zur geplanten Regierungskonferenz für die Wirtschafts- und Währungsunion die «vorbereitenden Arbeiten für eine Regierungskonferenz über die Politische Union einzuleiten» und die Vorhaben zur politischen sowie zur Wirtschafts- und Währungsunion bis Ende 1992 zu ratifizieren. Allerdings blieben die Ziele einer verstärkten demokratischen Legitimation der Union, der effizienteren Ausgestaltung ihrer Institutionen, der Einheit und Kohärenz ihrer Aktionen sowie einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zunächst recht allgemein und wenig verbindlich. Faktisch wurden die wirtschaftliche und die politische Union entkoppelt.
Am Ende stand im Februar 1992 der Vertrag von Maastricht, mit dem die Europäische Gemeinschaft in die Europäische Union überging. Der Vertrag ruhte auf «drei Säulen»: Die erste Säule der Wirtschafts- und Währungspolitik stärkte die gemeinschaftlichen Elemente; dabei konnte die Bundesregierung mit harten Stabilitätskriterien und einer unabhängigen Europäischen Zentralbank als Gegenleistung dafür, dass Deutschland die D-Mark aufgab, ihre stabilitätsorientierten geldpolitischen Anforderungen an die Gemeinschaftswährung durchsetzen. Im Hinblick auf die politische Union hingegen konnte sich Bonn nicht durchsetzen; die zweite Säule (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) und die dritte (Justiz und Inneres) beruhten auf Regierungszusammenarbeit statt auf gemeinschaftlichem Fundament.
Alles in allem hatte die Bundesregierung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zugestimmt, ohne vergleichbare Konzessionen für das eigene Ziel der politischen Union zu gewinnen, deren Gestalt freilich – mit Ausnahme gestärkter Rechte für Parlament und Kommission – nie klar umrissen worden war und dementsprechend wenig absehbar blieb. Insofern stellte die konkrete Zustimmung zum entscheidenden Schritt hin zur europäischen Währungsunion eine deutsche Konzession an Frankreich während des Wiedervereinigungsprozesses dar. Das aber bedeutet nicht, dass Kohl für die französische Zustimmungzur deutschen Einheit die D-Mark aufgegeben hätte. Denn dies geschah im Rahmen eines bereits vor der Wiedervereinigung in Gang gesetzten und grundsätzlich auch von der Bundesregierung angestrebten Prozesses. Innerhalb dieses Prozesses konnte sie ihre Vorstellungen allerdings auch deshalb nicht wie gewünscht durchsetzen, weil sie ihre Konzessionsmasse für die Wiedervereinigung benötigte.
5. Das Ende der Nachkriegszeit
Am 12. September 1990 wurde in Moskau – in der schmucklosen Atmosphäre eines Hotels – der «Vertrag über die
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