Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
Bundestag und die Volkskammer der Ratifizierung des ersten Staatsvertrags zu. Das Ost-Berliner Parlament hatte zuvor ein Verfassungsgrundsätzegesetz verabschiedet, mit dem es die bestehende Verfassung der DDR in ihrem materiellen Bestand praktisch abschaffte und zugleich die Übertragung der wirtschafts- und währungspolitischen Hoheitsrechte auf die Bundesbank und den Bundesgesetzgeber ermöglichte. Als der erste Staatsvertrag zum 1. Juli in Kraft trat, gehörten die Grenz- und Zollkontrollen innerhalb Deutschlands der Vergangenheit an, und innerhalb des gemeinsamen Währungsgebietes waren die Grundlagen für die einheitliche Verwirklichung der Wirtschaftsordnung, des Arbeitsrechts und der sozialen Sicherung gelegt. Im Kern war dies bereits ein Verfassungsvertrag, dem ein zweiter Staatsvertrag als Verfassungsvertrag im engeren Sinne folgte.
Die Entscheidung für diesen zweiten Vertrag fiel insbesondere auf Drängen der ostdeutschen Seite, die auf diese Weise als eigenständiger Verhandlungspartner auftreten wollte. Aus bundesdeutscher Warte hatte ein Vertrag den Vorteil, dass er gebündelte, konzise Lösungen statt langwieriger Übergangsregelungen ermöglichte, wobei es der Bonner Verhandlungsposition zugutekam, dass sie auf den Vertrag nicht angewiesen war. Da de Maizière zudem seit Ende Juli auf einen schnellen Abschluss drängte, weil er befürchtete, die DDR könne noch vor dem Beitritt vollends zusammenbrechen, wurde deren Gewicht als Verhandlungspartner zusehends schwächer, während die Sachzwänge der Probleme zunehmend schwerer wogen.
Als der Einigungsvertrag – über 1000 maschinenschriftliche Seiten, mit denen die politischen und rechtlichen Grundlagen für den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gemäß Art. 23 des Grundgesetzes geregelt wurden – am 31. August unterzeichnetwurde, hatte die Volkskammer bereits, in der Nacht vom 22. auf den 23. August, den Beschluss gefasst, der Bundesrepublik zum 3. Oktober 1990 beizutreten. Nach Art. 1 des Einigungsvertrages wurde die DDR um Mitternacht jenes Tages in einer «juristischen Sekunde» von ihren neu gebildeten Ländern abgelöst, die dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitraten.
Schon Ende 1989 war die Forderung aufgekommen, die Länder wieder einzuführen, die von der DDR 1952 aufgelöst worden waren. Das Ländereinführungsgesetz, das die Volkskammer am 22. Juli 1990 verabschiedete, sah pragmatisch die Bildung von fünf Ländern von allesamt vergleichsweise geringer Größe bzw. Einwohnerzahl vor. Sie gingen aus zusammengelegten Bezirken hervor, die auch die Infrastruktur prägten, und folgten weitgehend den alten Ländergrenzen. Das nördlichste neue Bundesland Mecklenburg-Vorpommern setzte sich im Prinzip aus den Bezirken Rostock, Schwerin und Neubrandenburg zusammen; das Bundesland Brandenburg aus den Bezirken Potsdam, Frankfurt (Oder) und Cottbus; die Bezirke Magdeburg und Halle gingen in Sachsen-Anhalt auf; aus den Bezirken Erfurt, Gera und Suhl wurde der Freistaat Thüringen und aus Leipzig, Dresden und Karl-Marx-Stadt (seit 1990 wieder Chemnitz) der Freistaat Sachsen gebildet.
Mit den Landtagswahlen vom 14. Oktober 1990 bekamen die Länder Parlamente, die zugleich als verfassunggebende Landesversammlungen fungierten. Zwischen 1992 und 1994 verabschiedeten sie Länderverfassungen – außer in Sachsen und Sachsen-Anhalt mit nachfolgender Volksabstimmung –, die sich eng an die der Westländer anlehnten. Schon im Frühjahr waren Partnerschaften der Westländer mit den entstehenden neuen Ländern festgelegt und verteilt worden. Einerseits hatten die westdeutschen Länder, wie Bund und Kommunen, durch Amts-, Verwaltungs- und Aufbauhilfe verschiedener Art, nicht zuletzt durch die Entsendung von Beamten, sowie durch Aus- und Fortbildungshilfen großen Anteil am Aufbau der Regierungs- und Verwaltungsstrukturen sowie der Rechtsprechung in den neuen Ländern; andererseits baute sich ein Verhältnis der Rivalität auf, nicht zuletzt im Hinblick auf den Bund.
Als die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 vor dem Berliner Reichstag symbolisch vollzogen wurde, indem die schwarz-rot-goldene Bundesflagge des vereinten Deutschland unter Feuerwerksfontänen gehisst, die nun gesamtdeutsche Nationalhymne gesungen und im Schöneberger Rathaus die Freiheitsglocke geläutet wurde, wuchs die Bundesrepublik um 16,4 auf insgesamt 78,7 Millionen Einwohner, ihr Territorium um gut 108.000 auf nunmehr 357.000 Quadratkilometer. Zugleich war die
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