Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
gelöst wurde. Weder 1815 noch 1871 noch 1919 noch 1945/49 war dies der Fall gewesen.
V. Einheit durch Beitritt
1. Der Weg zur Einheit
Am 12. April 1990 hatte die DDR ihre erste und zugleich letzte frei gewählte Regierung, der 25 Minister aus fünf Parteien angehörten. Die Wahlen hatten der Allianz für Deutschland und den Liberalen eine absolute Mehrheit für das Pendant zur Bonner Regierungskoalition beschert. Da angesichts der bevorstehenden großen Entscheidungen im Vereinigungsprozess allerdings Zwei-Drittel-Mehrheiten notwendig würden, lag von vornherein eine Koalition auch mit der SPD nahe.
Der neuen
classe politique
im Übergang gehörten viele Theologen und nur wenige Juristen an. Die neuen Regierungsmitglieder verfügten höchstens aus ihren kirchlichen Tätigkeiten über administrative und politisch-operative Erfahrungen und sahen sich nun unvermittelt mit einer Agenda grundlegender Themen mit weitreichender Bedeutung konfrontiert: von der Arbeitslosenversicherung und den Renten über die Neuordnung des Apothekenwesens und der Handwerksordnung oder die Organisation von Hörfunk und Fernsehen bis hin zur Kommunal- und Staatsverfassung. Hinzu kam die fortschreitende ökonomische und administrative Krise des Landes, die eine explosionsartig ansteigende Zahl von akut regelungsbedürftigen Problemen auf die Tagesordnung des Ministerrats beförderte. All dies erschwerte eine wirklich strategisch angelegte Politik ebenso wie der Umstand, dass der Auftrag der Regierung darin lag, sich selbst abzuschaffen.
Die neue Ost-Berliner Regierung hatte sich vorgenommen, die deutsche Einheit als Sachwalter der Ostdeutschen zu gestalten und deren soziale Interessen möglichst umfangreich zu sichern. Dazu entwickelte sie Vorstellungen, die mit den Erwartungen und Positionen der Bundesregierung keineswegs vollständig übereinstimmten. Die Ost-Berliner Regierung verfolgtedas Ziel einer «ökologisch verpflichteten sozialen Marktwirtschaft» mit dem «Ideal der sozialen Gerechtigkeit», das stark staatsinterventionistische Komponenten enthielt. Dezidiert sprach Lothar de Maizière, der erste und letzte frei gewählte Regierungschef der DDR, vom «Grundwert der Gleichheit», ohne im selben Maße von der Freiheit zu reden. Überhaupt rangierten Etatismus und sozialpolitische Umverteilung höher als marktwirtschaftliche Ordnungspolitik und bürgerliche Freiheit.
Demgegenüber konzipierte Bonn die Einheit ganz nach westdeutschen Maßstäben: in den Denkmustern der «Erfolgsgeschichte» der alten Bundesrepublik und der Systemkonkurrenz des Ost-West-Konflikts. Die DDR erschien in dieser Sichtweise ausschließlich als Unterdrückungssystem und Misswirtschaft, und folglich fand keine gleichberechtigte Vereinigung von zwei Partnern statt, sondern – in Übereinstimmung mit dem Selbstbestimmungsrecht der Ostdeutschen – eine Wiedervereinigung durch den Beitritt der gescheiterten DDR zur erfolgreichen Bundesrepublik, deren Ordnung in der Folge auf das Beitrittsgebiet übertragen wurde. Entsprechend setzte die Bundesregierung nicht nur aus pragmatischen Erwägungen, sondern aus grundsätzlicher Überzeugung auf eine Wiedervereinigung über den Beitrittsartikel 23 des Grundgesetzes und nicht auf dem Wege über eine neue gesamtdeutsche Verfassung nach Art. 146. Mit den Worten von Innenminister Schäuble: «Es gibt das Grundgesetz, und es gibt die Bundesrepublik Deutschland. Lasst uns von der Voraussetzung ausgehen, dass ihr vierzig Jahre lang von beiden ausgeschlossen wart. Jetzt habt ihr einen Anspruch auf Teilnahme, und wir nehmen darauf Rücksicht.»
Die bundesdeutsche Ordnung wurde mit Hilfe zweier Staatsverträge auf das Gebiet der DDR übertragen, und zugleich übernahm die Bundesrepublik die Gesamthaftung für die DDR und das SED-Regime. Der erste Staatsvertrag ging auf das Angebot der Bundesregierung vom 7. Februar zurück, eine Währungsunion mit Wirtschaftsreformen herzustellen. Nach den Volkskammerwahlen begannen die Verhandlungen, in denen Bonn die Initiative ergriff, auf die Ost-Berlin nur reagieren konnte. Am 18. Mai 1990 wurde in Bonn der erste Staatsvertragunterzeichnet, der die institutionellen und organisatorischen Grundlagen für die Einführung der sozialen Marktwirtschaft in der DDR schuf. Dabei war die ursprünglich vorgesehene Währungs- und Wirtschaftsunion um eine Sozialunion erweitert worden, die den tiefgreifenden Transformationsprozess sozialpolitisch abfedern sollte.
Am 21. Juni stimmten der
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