Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy
verlauten. Wie lange Natalie und wie lange O dort bleiben würden, hing für O zweifellos von der Entscheidung ab, die Sir Stephen traf, und für Natalie von dem Gebieter oder den Gebietern, die ihr das Schicksal in Roissy bescheren würde. Aber obwohl die fest geplanten und bestimmten Vorhaben beruhigend waren, machte O sich Sorgen, als ob es sich um ein gefährliches Vorzeichen handele, um eine Herausforderung des Schicksals, ja, sogar über diese Gewißheit, von der alle um sie herum erfüllt waren, daß sie tun würden, was er beschlossen habe, machte sie sich Sorgen. Natalies Freude entsprach ihrer Ungeduld, und in dieser Freude lag etwas von kindlicher Naivität und von dem Vertrauen, das Kinder in die Versprechungen von Erwachsenen setzen. Daß O die Verfügungsgewalt von Sir Stephen über sie anerkannte, erweckte in Natalie auch nicht den kleinsten Schatten eines Zweifels: Os Unterwürfigkeit war so unbedingt und stets so unmittelbar, daß Natalie sich nicht vorstellen konnte, so sehr bewunderte sie O, daß sich jemand Sir Stephen in den Weg stellen könne, wenn O vor ihm auf den Knien lag. So glücklich O auch war, und gerade weil sie glücklich war, wagte sie nicht daran zu glauben, und ebenso wenig wagte sie, Wasser in den Wein von Natalies Ungeduld und Freude zu gießen. Von Zeit zu Zeit, wenn Natalie halblaut sang, hieß sie sie jedoch schweigen, um das Schicksal nicht herauszufordern. Sie achtete darauf, niemals den Fuß auf die Fugen der Fliesen zu setzen, niemals Salz zu verschütten, niemals Messer über Kreuz oder das Brot umgekehrt hinzulegen. Und was Natalie nicht wußte und sie ihr nicht zu sagen wagte, war, daß sie sich deshalb so gern peitschen ließ, weil sie abgesehen von der Lust, die sie bis zu einem gewissen Grad dabei verspürte, für das Glück, das sie darin fand, sogar über ihren Willen hinaus preisgegeben zu sein, bei Überschreitung dieses Grades gewissermaßen mit Schmerzen und Demütigung bezahlte - Demütigung, weil sie es nicht fertigbrachte, nicht zu flehen und nicht zu schreien, während sie das Glück empfand und damit vielleicht abergläubisch dessen Dauer sicherstellte. Ah, sich nicht bewegen, damit auch die Zeit stillstehe! O haßte das Morgengrauen und die Abenddämmerung, wenn sich alles wendet, seine Form aufgibt und eine andere annimmt, so verräterisch, so traurig. Machten die Tatsache, daß René sie an Sir Stephen abgetreten hatte, und gleichzeitig die Leichtigkeit, mit der sie sich nachgerade umgestellt hatte, es nicht ebenso wahrscheinlich, daß Sir Stephen sich seinerseits ändern könnte? Als O eines Tages nackt vor ihrer geschweiften Kommode stand, deren Bronzebeschläge eine chinesische Imitation waren und Figuren darstellten mit spitzen Hüten wie die Strandhüte, die Natalie trug, kam es ihr in den Sinn, daß etwas neu war an Sir Stephens Verhalten ihr gegenüber. Erstens verlangte er von ihr, daß sie von jetzt an in ihrem Zimmer ständig nackt sei. Selbst die Pantöffelchen waren ihr nicht mehr erlaubt, noch die Halsbänder oder ein sonstiger Schmuck. Das war nur eine Kleinigkeit. Wenn Sir Stephen, fern von Roissy, eine Vorschrift wünschte, die ihn an Roissy erinnerte, stand es O dann zu, sich darüber zu verwundern? Es war etwas Ernsteres. Gewiß, in jener Ballnacht war O darauf gefaßt gewesen, daß Sir Stephen sie dem Gastgeber ausliefern mußte. Gewiß, er selbst hatte sie - in Gegenwart von René zum Beispiel oder von Anne-Marie und seit einiger Zeit natürlich in Gegenwart von Natalie - schon am hellichten Tage genommen. Aber vor jener Nacht hatte er sie niemals in seiner Gegenwart von irgendeinem anderen nehmen lassen und sie auch nicht mit demjenigen geteilt, dem er sie auslieferte. Und niemals war sie ausgeliefert worden, ohne daß er sie nachher dafür züchtigte, als ob eben das Ziel, das er verfolgte, wenn er sie prostituierte, nur ein Vorwand sei, um sie zu bestrafen. Aber nicht an dem Tag nach dem Ball. Erschien ihm die Schmach, die es für O bedeutete, vor seinen Augen einem anderen als ihm zu gehören, als ausreichende Buße? Was sie so bereitwillig hingenommen hatte, als es René war und nicht Sir Stephen. Was sie so bereitwillig hingenommen hatte, wenn Sir Stephen nicht da war, erschien O abscheulich in seiner Gegenwart. Zwei Tage vergingen dann, ohne daß er sich ihr näherte. O wollte Natalie in ihr Zimmer zurückschicken, Sir Stephen verbot es ihr. O wartete also, bis Natalie eingeschlafen war, um in der Stille und ohne gesehen zu
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