Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution
zu erklären: alles bleibt beim alten.
Am 8. kam endlich aus dem Ministerlaboratorium das Dekret über die Amnestie heraus. Zu dieser Zeit waren bereits die Türen der Gefängnisse im ganzen Lande vom Volk geöffnet worden, politische Verbannte kehrten zurück im dichten Strom von Versammlungen, Enthusiasmus, Militärmusik, Reden und Blumen. Das Amnestiedekret klang wie ein verspätetes Echo der Kanzleien. Am 12. wurde die Abschaffung der Todesstrafe proklamiert. Vier Monate später die Todesstrafe für Soldaten wieder eingeführt. Kerenski hatte versprochen, die Rechtspflege auf eine nie dagewesene Höhe zu heben. In der Hitze des Gefechts hatte er tatsächlich den Antrag zur Annahme gebracht, der Vertreter von Arbeitern und Soldaten als Mitglieder der Friedensgerichte einführte. Das war die einzige Maßnahme, in der man den Pulsschlag der Revolution verspürte und die darum bei allen Eunuchen der Justiz Entsetzen hervorrief. Damit aber endete die Sache. Der unter Kerenski einen hohen Ministerposten innehabende Advokat Demjanow, ebenfalls "Sozialist", beschloß, nach seinen eigenen Worten, sich an das Prinzip zu halten, alle alten Beamten auf ihren Plätzen zu belassen: "Die Politik der revolutionären Regierung darf niemanden ohne Notwendigkeit kränken." Das war im wesentlichen die Regel der gesamten Provisorischen Regierung, die am meisten Angst hatte, jemand aus der Mitte der herrschenden Klassen zu kränken, sogar die zaristische Bürokratie. Nicht nur die Richter, sondern auch die Staatsanwälte des Zarismus blieben auf ihren Posten. Gewiß, die Massen konnten sich deswegen gekränkt fühlen. Das aber ging die Sowjets an: die Massen blieben außerhalb des Gesichtsfeldes der Regierung.
Etwas wie einen frischen Strahl brachte nur der bereits erwähnte temperamentvolle Oberprokureur Lwow hinein, der offiziell über die "Idioten und Schufte", die im Heiligen Synod saßen, berichtete. Nicht ohne Besorgnis tauschten die Minister diesen saftigen Charakteristiken, der Synod aber blieb als Staatsinstitution und die Orthodoxie als Staatsreligion weiter bestehen. Sogar die Zusammensetzung des Synods blieb erhalten: die Revolution darf es sich mit keinem verderben.
Die Mitglieder des Staatsrates, treue Diener zweier oder dreier Kaiser, fuhren fort zu tagen, zumindest ihr Gehalt zu beziehen. Diese Tatsache gewann bald symbolische Bedeutung. In den Fabriken und Kasernen protestierte man laut. Das Exekutivkomitee war erregt. Die Regierung verwendete zwei Tage auf die Beratung über Schicksal und Gehalt der Mitglieder des Staatsrates und konnte zu keinem Entschluß kommen. Wie sollte man auch ehrwürdige Männer beunruhigen, unter denen zudem nicht wenige gute Bekannte waren?
Die Rasputinschen Minister saßen noch in der Festung, aber die Provisorische Regierung beeilte sich bereits, den ehemaligen Ministern eine Pension auszusetzen. Das klang wie eine Verhöhnung oder wie eine Stimme aus dem Jenseits. Die Regierung jedoch wollte sich's mit ihren Vorgängern nicht verderben, wenn man diese auch ins Gefängnis gesetzt hatte.
Die Senatoren schlummerten weiter in ihren betreßten Uniformen, und als der von Kerenski neu ernannte linke Senator Sokolow es wagte, im schwarzen Gehrock zu erscheinen, wurde er einfach aus der Sitzung entfernt: die zaristischen Senatoren fürchteten sich vor einem Streit mit der Februarrevolution nicht, nachdem sie sich überzeugt hatten, daß deren Regierung zahnlos war.
Die Ursache für den Zusammenbruch der Märzrevolution in Deutschland erblickte einst Marx darin, daß sie "nur die politische Spitze reformierte, während sie alle Schichten unterhalb dieser Spitze unangetastet ließ - die alte Bürokratie, die alte Armee, die alten, im Dienste des Absolutismus geborenen, erzogenen und ergrauten Richter". Die Sozialisten vom Typ Kerenskis suchten Rettung darin, worin Marx die Ursache des Unterganges sah. Die menschewistischen Marxisten gingen mit Kerenski, nicht mit Marx.
Das einzige Gebiet, auf dem die Regierung Initiative und revolutionäres Tempo an den Tag legte, war die Gesetzgebung für Aktiengesellschaften: ein Reformdekret wurde bereits am 17. März erlassen. Nationale Beschränkungen wie die des Glaubens wurden erst drei Tage später abgeschafft. In der Regierung gab es nicht wenige Personen, die unter dem alten Regime an nichts weiter als an den Mängeln des Aktienwesens gelitten hatten.
Die Arbeiter forderten ungeduldig den Achtstundentag. Die Regierung stellte sich taub auf beiden
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