Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
erfaßt.
"Die Bolschewiki", schreibt Stankewitsch, "erhoben die Köpfe und fühlten sich völlig als Herren in der Armee ... Die unteren Komitees begannen sich in bolschewistische Zellen zu verwandeln. Alle Wahlen bei der Armee ergaben erstaunliche Zunahmen an bolschewistischen Stimmen. Es kann dabei nicht außer acht gelassen werden, daß die beste, strammste Armee nicht nur der Nordfront, sondern vielleicht der gesamten russischen Front, die fünfte, als erste ein bolschewistisches Armeekomitee gestellt hat."
Noch krasser, sichtbarer, farbiger bolschewisierte sich die Flotte. Die baltischen Matrosen zogen am 8. September auf allen Schiffen Gefechtsflaggen hoch, als Ausdruck ihrer Bereitschaft, für den Übergang der Macht in die Hände des Proletariats und der Bauernschaft zu kämpfen. Die Flotte forderte den sofortigen Waffenstillstand an allen Fronten, Übergabe des Bodens an die Bauernkomitees und Errichtung einer Arbeiterkontrolle über die Produktion. Drei Tage später erhob das Zentralkomitee der rückständigeren und gemäßigteren Schwarzmeerflotte, die Balten unterstützend, die Losung der Übergabe der Macht an die Sowjets. Für die gleiche Losung erheben Mitte September ihre Stimmen dreiundzwanzig sibirische und lettische Infanterieregimenter der 12. Armee. Ihnen folgen immer neue Truppenteile. Die Forderung, die Macht den Sowjets, verschwindet in Armee und Flotte nicht mehr von der Tagesordnung.
"Die Matrosenversammlungen", erzählt Stankewitsch, "bestanden zu neun Zehnteln aus Bolschewiki." Der neue Kommissar beim Hauptquartier hatte in Reval vor den Seeleuten die Provisorische Regierung zu verteidigen. Bei den ersten Worten verspürte er das Vergebliche seiner Bemühungen. Schon bei dem Wort "Regierung" grenzte sich der Saal feindselig ab: "Wellen der Empörung, des Hasses und des Mißtrauens erfaßten jäh die gesamte Menge. Das war grell, machtvoll, leidenschaftlich, unüberwindlich und verschmolz in dem einmütigen Schrei: Nieder!" Man muß dem Erzähler Gerechtigkeit widerfahren lassen, der es nicht versäumte, die Schönheit des Vorstoßes der ihm todfeindlichen Massen zu verzeichnen.
Die Friedensfrage, für zwei Monate in die Illegalität verjagt, tritt mit verzehnfachter Kraft an die Oberfläche. In der Sitzung des Petrograder Sowjets erklärte der von der Front eingetroffene Offizier Dubassow: "Was ihr hier auch sagen möget, die Soldaten werden nicht mehr Krieg führen." Zwischenrufe: "Das sagen nicht einmal die Bolschewiki!" ... Doch der Offizier, Nichtbolschewik, parierte: "Ich berichte nur das, was ich weiß und was mich die Soldaten zu sagen beauftragt haben." Ein anderer Frontler, ein düsterer Soldat, dessen Rock vom Schmutz und Gestank der Schützengräben strotzte, erklärte in den gleichen Septembertagen vor dem Petrograder Sowjet, die Soldaten brauchten Frieden, welcher immer es sei, und wenn auch "irgendeinen unflätigen". Diese derben Soldatenworte machten den Sowjet erschauern. So weit also ist es gekommen! Die Soldaten an der Front waren keine kleinen Kinder. Sie begriffen sehr wohl, daß bei der gegebenen "Kriegskarte" der Frieden nur ein Gewaltfrieden sein konnte. Um dieses Verständnis zu dokumentieren, wählte der Schützengrabendelegierte das gröbste Wort, das die ganze Kraft seines Ekels vor dem Hohen-zollernschen Frieden ausdrückte. Aber gerade durch diese entblößende Bewertung zwang der Soldat seine Hörer, zu begreifen, daß es einen anderen Weg nicht gibt, daß der Krieg der Armee die Seele ausgepumpt hat, daß der Frieden sofort und um jeden Preis notwendig ist. Die Worte des Redners aus dem Schützengraben wurden von der bürgerlichen Presse schadenfroh aufgegriffen und den Bolschewiki zugeschoben. Das Wort vom unflätigen Frieden verschwand nun nicht mehr von der Tagesordnung, als äußerster Ausdruck der Verwilderung und Verderbtheit des Volkes!
In der Regel waren die Versöhnler keineswegs geneigt, gleich dem politischen Dilettanten Stankewitsch die Prächtigkeit der Flut zu bewundern, die sie aus der revolutionären Arena wegzuspülen drohte. Mit Staunen und Entsetzen überzeugten sie sich tagtäglich, daß sie über keine Widerstandskraft verfügten. Im Grunde hatte sich unter dem Vertrauen der Massen für die Versöhnler von den ersten Stunden der Revolution an ein historisch unvermeidliches, aber nicht langandauerndes Mißverständnis verborgen: zu seiner Aufdeckung waren nur wenige Monate erforderlich. Die Versöhnler sahen sich gezwungen, mit den
Weitere Kostenlose Bücher