Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
Politik ersteht vor uns als direkter Gegensatz zu Demagogie und Abenteurertum!
Lenin ist illegal. Mit Spannung verfolgt er die Zeitungen, liest, wie stets, zwischen den Zeilen und lauscht in den wenigen persönlichen Gesprächen dem Echo der nicht zu Ende gedachten Gedanken und unausgesprochenen Absichten. In den Massen herrscht Ebbe. Martow, der die Bolschewiki gegen Verleumdungen verteidigt, ironisiert gleichzeitig wehmütig die Partei, die "so schlau war", sich selbst eine Niederlage zuzufügen. Lenin errät - bald erreichen ihn positive Gerüchte -, daß auch manchem der Bolschewiki Bußetöne nicht fremd sind und daß der sensible Lunatscharski nicht einsam ist. Lenin schreibt über das Gejammer der Kleinbourgeois und über das "Renegatentum" jener Bolschewiki, die diesem Gejammer so viel Mitgefühl entgegenbringen. Die Bolschewiki in Bezirk und Provinz greifen diese grimmigen Worte zustimmend auf. Sie überzeugen sich noch fester: der "Alte" verliert den Kopf nicht, läßt den Mut nicht sinken, gibt sich nicht zufälligen Stimmungen hin.
Ein Mitglied des Zentralkomitees - ist es nicht Swerdlow? - schreibt in die Provinz: "Wir sind vorübergehend ohne Zeitung ... Die Organisation ist nicht zerschlagen ... Der Parteitag wird nicht vertagt." Lenin verfolgt aufmerksam, soweit seine unfreiwillige Isolierung es ihm erlaubt, die Vorbereitungen zum Parteitag und entwirft dessen grundlegende Beschlüsse: es geht um den Plan des weiteren Angriffs. Der Parteitag wird im voraus als Vereinigungsparteitag bezeichnet, da dort die Aufnahme einiger autonomer revolutionärer Gruppen in die Partei erfolgen soll, vor allem der Petrograder interrayonellen Organisation, welcher Trotzki, Joffe, Uritzki, Rjasanow, Lunatscharski, Pokrowski, Manuilski, Karachan, Jurenjew und einige andere, aus der Vergangenheit bekannte oder ihrem Bekanntwerden erst entgegengehende Revolutionäre angehören.
Am 2. Juli, gerade am Vorabend der Demonstration, fand eine Konferenz der Interrayonisten statt, die etwa viertausend Arbeiter vertrat. "Die Mehrzahl", schreibt der im Zuhörerraum anwesende Suchanow, "waren mir unbekannte Arbeiter und Soldaten ... Die Arbeit wurde fieberhaft geleistet, und ihre Resultate waren allen greifbar. Es störte jedoch die Frage: Worin unterscheidet ihr euch von den Bolschewiki, und weshalb seid ihr nicht mit ihnen?"
Um die Vereinigung zu beschleunigen, die einzelne Organisationsleiter zu verschleppen suchten, veröffentlichte Trotzki in der Prawda eine Erklärung: "Keinerlei prinzipielle oder taktische Meinungsverschiedenheiten existieren, meiner Ansicht nach, gegenwärtig zwischen Interrayonisten und der bolschewistischen Organisation. Es gibt folglich keine Gründe, die das getrennte Bestehen dieser Organisationen rechtfertigen."
Am 26. Juli begann der Vereinigungsparteitag, der sechste Parteitag der Bolschewiki, der halbillegal verlief und sich abwechselnd in zwei Arbeiterbezirken verbergen mußte. 175 Delegierte, davon 157 mit beschließender Stimme, vertraten 112 Organisationen, die 176.750 Mitglieder umfaßten. Petrograd zählte 41.000 Mitglieder: 36.000 in der bolschewistischen Organisation, 4.000 Interrayonisten und etwa 1.000 in der Militärischen Organisation. Im Zentralindustriedistrikt mit Moskau als Zentrum hatte die Partei 42.000 Mitglieder, im Ural 25.000, im Donezbecken etwa 15.000. Im Kaukasus existierten starke bolschewistische Organisationen in Baku, Grosny und Tiflis; die beiden ersteren bestanden fast ausschließlich aus Arbeitern, in Tiflis überwogen Soldaten.
Die personelle Zusammensetzung des Parteitages barg in sich die vorrevolutionäre Vergangenheit der Partei. Von den 171 Delegierten, die Enqueten ausfüllten, hatten 110 245 Jahre im Gefängnis gesessen, zehn Mann 41 Jahre in der Ka-torga verbracht, 24 waren für 73 Jahre zur Ansiedlung in Sibirien verurteilt, insgesamt waren 55 Menschen 127 Jahre in Verbannung gewesen; 27 Menschen hatten 89 Jahre in Emigration verbracht; 150 Menschen waren 549mal verhaftet gewesen.
"Auf diesem Parteitag", erinnerte sich später Pjatnitzki, einer der heutigen Sekretäre der Kommunistischen Internationale, "waren weder Lenin, noch Trotzki, noch Sinowjew, noch Kamenjew anwesend ... Wenn auch die Frage des Parteiprogramms von der Tagesordnung abgesetzt worden war, verlief der Parteitag ohne Parteiführer sachlich und gut ... " Die Basis der Arbeiten bildeten Lenins Thesen. Als Referenten traten Bucharin und Stalin auf. Stalins Referat ist kein schlechter
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