Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
Gradmesser der Strecke, die der Referent selbst, gemeinsam mit allen Parteikadern, während der vier Monate seit Lenins Ankunft zurückgelegt hatte. Theoretisch unsicher, aber politisch entschieden versuchte Stalin jene Züge aufzuzeigen, die "den tiefen Charakter einer sozialistischen Arbeiterrevolution" bestimmen. Die Einmütigkeit des Parteitages im Vergleich zur Aprilkonferenz springt in die Augen.
Über die Wahl des Zentralkomitees berichtet das Parteitagsprotokoll: "Es werden die Namen der vier Mitglieder des Zentralkomitees verlesen, die die meisten Stimmen erhielten: Lenin - 133 von 134, Sinowjew - 132, Kamenjew - 131 Trotzki - 131; außer ihnen sind in das Zentralkomitee gewählt: Nogin, Kollontay, Stalin, Swerdlow, Rykow, Bucharin, Artem, Joffe, Uritzki, Miljutin, Lomow." Diese Zusammensetzung des Zentralkomitees muß man sich merken: unter seiner Leitung wird die Oktoberumwälzung vollbracht werden.
Martow begrüßte den Parteitag durch ein Schreiben, in dem er wieder seine "tiefe Entrüstung über die verleumderische Kampagne" zum Ausdruck brachte, in den grundlegenden Fragen aber an der Schwelle der Tat stehenblieb. "Es darf nicht geduldet werden", schrieb er, "daß der Aufgabe der Machteroberung durch die Mehrheit der revolutionären Demokratie unterschoben wird die Aufgabe der Machteroberung im Kampfe gegen diese Mehrheit und im Widerspruch zu ihr." Unter Mehrheit der revolutionärer Demokratie verstand Martow noch immer die den Boden unter den Füßen verlierende offizielle Sowjetvertretung. "Martow verbindet mit den Sozialpatrioten nicht eine leere fraktionelle Tradition", schrieb Trotzki damals, "sondern die tief opportunistische Einstellung zur sozialen Revolution als zu einem fernen Ziel, das nicht die Festlegung der gegenwärtigen Aufgaben bestimmen kann. Und gerade dies trennt ihn von uns."
Nur ein kleiner Teil linker Menschewiki mit Larin an der Spitze näherte sich in jener Periode endgültig den Bolschewiki. Jurenjew, künftiger Sowjetdiplomat, kam auf dem Parteitag als Berichterstatter zur Frage der Vereinigung mit den Internationalisten zu der Schlußfolgerung: Es bleibt nur übrig, sich zu vereinigen mit "der Minderheit der Minderheit der Menschewiki ... " Der breite Zustrom ehemaliger Menschewiki in die Partei begann erst nach der Oktoberumwälzung: indem sie sich nicht dem proletarischen Aufstande, sondern der aus ihm hervorgegangenen Macht anschlossen, bewiesen die Menschewiki die Grundeigenschaft des Opportunismus: die Anbetung der jeweiligen Macht. Lenin, der sich in der Frage der Parteizusammensetzung sehr empfindlich verhielt, stellte bald die Forderung, neunundneunzig Prozent der nach der Oktoberumwälzung eingetretenen Menschewiki wieder hinauszujagen. Dies zu erreichen, gelang ihm bei weitem nicht. In der Folge sind die Tore vor den Menschewiki und Sozialrevolutionären weit geöffnet worden, und die ehemaligen Versöhnler wurden eine der Stützen des Stalinschen Parteiregimes. Aber all das gehört schon in eine spätere Zeit.
Swerdlow, der praktische Organisator des Parteitages, berichtete: "Trotzki war bereits vor dem Parteitag in die Redaktion unseres Organs eingetreten, aber die Einkerkerung verhinderte seine faktische Mitarbeit." Erst auf dem Juliparteitag wurde Trotzki formell Mitglied der bolschewistischen Partei. Es wurde das Fazit gezogen unter die Jahre der Meinungsverschiedenheiten und des fraktionellen Kampfes. Trotzki kam zu Lenin wie zu einem Lehrer, dessen Kraft und Bedeutung er später als viele andere, aber vielleicht besser als sie begriffen hatte. Raskolnikow, der mit Trotzki seit dessen Ankunft aus Kanada in naher Berührung stand und dann Seite an Seite mit ihm einige Wochen im Gefängnis verbrachte, schreibt in seinen Erinnerungen: "Mit großer Verehrung stand Trotzki zu Wladimir Iljitsch [Lenin]. Er stellte ihn über alle Zeitgenossen, mit denen er in Rußland und im Auslande zusammengetroffen war. Aus dem Tone, in dem Trotzki von Lenin sprach, fühlte man die Ergebenheit des Schülers: zu jener Zeit blickte Lenin auf eine dreißigjährige Erfahrung im Dienste des Proletariats zurück, Trotzki auf eine zwanzigjährige. Das Echo einstiger Meinungsverschiedenheiten in der Vorkriegsperiode war restlos verhallt. Zwischen den taktischen Linien von Lenin und Trotzki bestand kein Unterschied. Diese bereits während des Krieges wahrnehmbare Annäherung offenbarte sich völlig mit dem Moment der Rückkehr Lew Dawidowitschs [Trotzkis] nach Rußland; nach seinen
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