Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
Macht aus den Händen des Proletariats in die Hände der Bourgeoisie übertrug. Damit allein schon blieb die Losung, "die Macht den Sowjets", wieder in der Luft hängen. Jedoch nicht für lange: bereits in den nächsten Tagen erhielten die Bolschewiki die Mehrheit im Petrograder und danach in einer Reihe anderer Sowjets. Die Losung: "Die Macht den Sowjets", wurde deshalb nicht zum zweitenmal von der Tagesordnung abgesetzt, sondern erhielt einen neuen Sinn: Alle Macht den bolschewistischen Sowjets. In dieser ihrer Form hörte die Losung endgültig auf, eine Losung friedlicher Entwicklung zu sein. Die Partei betritt den Weg des bewaffneten Aufstandes durch die Sowjets und im Namen der Sowjets.
Zum Verständnis des weiteren Entwicklungsganges muß man die Frage stellen: Wie hatten die Versöhnlersowjets Anfang September die Macht, die sie im Juli verloren hatten, wieder erlangt? Durch die Resolution des VI. Parteitages zieht sich wie ein roter Faden die Behauptung, als sei im Resultat der Juliereignisse die Doppelherrschaft liquidiert und von der Diktatur der Bourgeoisie abgelöst worden. Die neuesten Sowjethistoriker schreiben diesen Gedanken von einem Buch ins andere ab, ohne auch nur zu versuchen, ihn nochmals im Lichte der nachfolgenden Ereignisse zu überprüfen. Sie stellen sich nicht einmal die Frage: Wenn im Juli die Macht restlos in die Hände einer Militärclique übergegangen war, weshalb mußte dann im August diese Militärclique zum Aufstand greifen? Den riskanten Weg der Verschwörung beschreitet nicht, wer die Macht besitzt, sondern der, der sie ergreifen will.
Die Formel des VI. Parteitages war zumindest unpräzis. Bezeichneten wir mit Doppelherrschaft jenes Regime, unter dem in den Händen der offiziellen Regierung wesentlich eine Fiktion der Macht, die reale Macht aber in den Händen des Sowjets war, so besteht kein Grund, zu behaupten, die Doppelherrschaft sei mit dem Augenblick liquidiert gewesen, wo ein Teil der realen Macht vom Sowjet zur Bourgeoisie überging. Vom Standpunkt der Kampfaufgaben des Augenblicks konnte man und durfte man die Konzentrierung der Macht in den Händen der Konterrevolution überschätzen. Politik ist nicht Mathematik. Praktisch war es unermeßlich gefährlicher, die Bedeutung der stattgefundenen Veränderung zu unterschätzen als sie zu überschätzen. Die historische Analyse jedoch bedarf nicht der Übertreibungen der Agitation.
Den Gedanken Lenins versimpelnd, sagte Stalin auf dem Parteitag: "Die Lage ist klar. Von Doppelherrschaft spricht jetzt niemand. Haben die Sowjets früher eine reale Macht dargestellt, so sind es jetzt nur Organe des Massenzusammenschlusses, die über keine Macht verfügen." Einige Delegierte widersprachen in dem Sinne, daß im Juli die Reaktion triumphiert, aber die Konterrevolution nicht gesiegt habe. Stalin antwortete darauf mit einem überraschenden Aphorismus: "Während einer Revolution gibt es keine Reaktion." In Wirklichkeit siegt die Revolution nur über eine Reihe sich ablösender Reaktionen: sie macht stets einen Schritt rückwärts nach zwei Schritten vorwärts. Die Reaktion verhält sich zur Konterrevolution wie die Reform zur Umwälzung. Als Siege der Reaktion kann man solche Veränderungen im Regime bezeichnen, die dieses den Bedürfnissen der konterrevolutionären Klasse annähern, ohne indes den Träger der Macht zu wechseln. Der Sieg der Konterrevolution hingegen ist undenkbar ohne Übergang der Macht in die Hände einer anderen Klasse. Ein solch entscheidender Übergang fand im Juli nicht statt.
"Wenn der Juliaufstand ein halber Aufstand war", schrieb mit Recht einige Monate später Bucharin, der es jedoch nicht vermocht hatte, aus seinen eigenen Worten die notwendigen Schlußfolgerungen zu ziehen, "so war bis zu einem gewissen Grade auch der Sieg der Konterrevolution ein halber Sieg." Doch der halbe Sieg konnte der Bourgeoisie die Macht nicht bringen. Die Doppelherrschaft hatte sich umgestaltet und verwandelt, war aber nicht verschwunden. In der Fi-brik konnte man wie früher nichts gegen den Willen der Arbeiter unternehmen. Die Bauern hatten so viel Macht behalten, um den Gutsbesitzer am Genuß seiner Eigentumsrechte zu hindern. Die Kommandeure fühlten sich vor den Soldaten unsicher. Was aber ist Macht, wenn nicht die materielle Möglichkeit, über Militärgewalt und Eigentum zu verfügen? Am 13. August schrieb Trotzki über die stattgefundenen Verschiebungen: "Nicht darum handelt es sich, daß neben der Regierung der
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