Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
streitet ihr euch um eine verflossene Koalition, warum sorgt ihr euch um die Zukunft? Wir haben Kerenski, und dies genügt ..." Die bolschewistische Fragestellung verband fast automatisch Zeretelli mit Sarudny und beide mit Kerenski. Darüber schrieb treffend Miljukow: Sarudny mochte über Kerenskis Selbstherrlichkeit klagen, Zere-telli mochte darauf anspielen, daß dem Regierungsoberhaupt der Kopf zu schwindeln begann, - "das waren Worte"; als aber Trotzki konstatierte, in der Beratung hätte niemand die offene Verteidigung Kerenskis auf sich genommen, "fühlte die Versammlung jäh, daß da ein gemeinsamer Feind sprach".
Über die Macht redeten die Menschen, die sie repräsentierten, nicht anders als über eine Last und ein Unglück. Kampf um die Macht? Minister Peschechonow belehrte: "Die Macht stellt sich jetzt als eine Sache dar, vor der sich alle wie vor dem Teufel bekreuzigen." War dem so? Kornilow bekreuzigte sich nicht. Aber die ganz frische Lektion war bereits zur Hälfte vergessen. Zeretelli wetterte gegen die Bolschewiki, die selbst die Macht nicht übernehmen, sondern die Sowjets zur Macht drängen. Zeretellis Gedanken griffen andere auf. Ja, die Bolschewiki müssen die Macht übernehmen! sprach man halblaut am Präsidiumstisch. Awksentjew wandte sich an den in seiner Nähe sitzenden Schljapnikow: "Nehmt die Macht, mit euch gehen die Massen." Dem Nachbar im gleichen Tone antwortend, schlug Schljapnikow vor, die Macht zuerst auf den Präsidiumstisch niederzulegen. Halbironische Herausforderungen an die Adresse der Bolschewiki, sowohl in den Reden von der Tribüne herab wie in Couloirgesprächen, waren teils Hohn, teils Rekognoszierung. Was gedenken diese Menschen, die an die Spitze des Petrograder, Moskauer und vieler Provinzsowjets geraten sind, weiter zu tun? Werden sie es tatsächlich wagen, die Macht zu ergreifen? Daran glaubte man nicht. Zwei Tage vor Zeretellis herausforderndem Auftreten schrieb die Rjetsch, das beste Mittel, den Bolschewismus für viele Jahre loszuwerden, wäre, seinen Führern die Geschicke des Landes auszuliefern; aber "diese traurigen Helden des Tages streben in Wirklichkeit nicht danach, die ganze Macht zu ergreifen ... praktisch kann ihre Position von keinem Standpunkt aus in Rechnung gestellt werden". Diese stolze Schlußfolgerung war zumindest übereilt.
Ein riesiger Vorteil der Bolschewiki, bisher wohl noch nicht voll bewertet, war, daß sie ihre Gegner sehr gut verstanden, man kann sagen, ganz durchschauten. Dazu verhalf ihnen sowohl die materialistische Methode wie die Leninsche Schule der Klarheit und der Einfachheit wie die scharfe Wachsamkeit von Menschen, die entschlossen sind, bis ans Ende zu gehen. Die Liberalen und die Versöhnler hingegen konstruierten sich Bolschewiki je nach den Bedürfnissen des Augenblicks. Anders konnte es auch nicht sein: Parteien, denen die Entwicklung keinen Ausweg gelassen, haben niemals die Fähigkeit bewiesen, der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen, wie ein hoffnungslos Kranker nicht fähig ist, seiner Krankheit ins Gesicht zu sehen.
Aber ohne an den Aufstand der Bolschewiki zu glauben, fürchteten die Versöhnler ihn. Das drückte am besten Kerenski aus. "Irret euch nicht", schrie er plötzlich während seiner Rede heraus, "glaubt nicht, daß, wenn mich die Bolschewiki hetzen, hinter mir keine Kräfte der Demokratie stehen. Glaubt nicht, daß ich in der Luft hänge. Merkt euch, wenn ihr irgend etwas unternehmen solltet, werden die Eisenbahnen stehenbleiben, Depeschen nicht befördert werden ..." Ein Teil des Saales applaudiert, ein Teil schweigt verlegen, der bolschewistische Teil lacht offen. Schlimm steht es mit einer Diktatur, die gezwungen ist, nachzuweisen, daß sie nicht in der Luft hängt!
Auf ironische Herausforderungen, Vorwürfe der Feigheit und sinnlose Drohungen antworteten die Bolschewiki in ihrer Deklaration: "Kämpfend um die Macht, im Namen der Verwirklichung ihres Programms, strebte und strebt unsere Partei nicht danach, sich die Macht gegen den organisierten Willen der Mehrheit der werktätigen Massen des Landes anzueignen." Das hieß: Wir werden die Macht übernehmen als Partei der Sowjetmehrheit. Die Worte vom "organisierten Willen der Werktätigen" bezogen sich auf den bevorstehenden Sowjetkongreß. "Nur jene Beschlüsse und Anträge dieser Beratung ...", sagte die Deklaration, "können den Weg der Verwirklichung finden, die die Zustimmung des Allrussischen Sowjetkongresses finden werden ... "
Während der
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