Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
vornherein feindlich, da sie in ihr einen Versuch erblickte, die Positionen zu festigen, die die Demokratie durch den Sieg über Kornilow zurückerlangt hatte. "Zeretellis Vorhaben", schreibt Miljukow in seiner Geschichte "war im wesentlichen völlige Kapitulation vor Lenins und Trotzkis Plänen." Ganz im Gegenteil: Zeretellis Vorhaben war darauf gerichtet, den Kampf der Bolschewiki um die Macht der Sowjets zu paralysieren. Die Demokratische Beratung sollte dem Sowjetkongreß entgegengestellt werden. Die Versöhnler wollten sich eine neue Basis schaffen, indem sie versuchten, die Sowjets durch künstlichen Zusammenschluß verschiedenster Organisationen zu erdrosseln. Die Demokraten verteilten die Stimmen nach eigenem Ermessen, geleitet von der einen Sorge: sich die unbestreitbare Mehrheit zu sichern. Die Spitzenorganisationen waren unvergleichlich zahlreicher vertreten als die unteren. Die Selbstverwaltungsorgane, darunter auch die nicht demokratisierten Semstwos, erhielten ein gewaltiges Übergewicht über die Sowjets. Den Genossenschaften fiel die Rolle der Schicksallenker zu.
Sie, die früher in der Politik keinen Platz innehatten, taten sich in den Tagen der Moskauer Beratung zum ersten Mal in der politischen Arena hervor und begannen seit dieser Zeit nicht anders aufzutreten als im Namen von zwanzig Millionen ihrer Mitglieder oder, noch einfacher, im Namen "der halben Bevölkerung Rußlands". Die Genossenschaften waren im Dorfe verwurzelt durch dessen obere Schichten, die einer "gerechten" Expropriierung des Adels unter der Bedingung zustimmten, daß ihre eigenen, häufig nicht unbeträchtlichen Besitzungen nicht nur Schutz, sondern auch Zuwachs erhielten. Die Genossenschaftsführer wurden geworben aus der liberal-volkstümlerischen, zum Teil auch aus der liberal-marxistischen Intelligenz, die eine natürliche Brücke zwischen Kadetten und Versöhnlern schuf. Den Bolsche-wiki gegenüber verhielten sich die Genossenschaftler mit dem gleichen Haß, mit dem sich der Kulak dem ungehorsamen Tagelöhner gegenüber verhält. Die Versöhnler klammerten sich mit Gier an die ihrer Neutralitätsmaske entblößten Genossenschaften, um gegen die Bolschewiki Verstärkung zu gewinnen. Lenin brandmarkte hart die Köche der demokratischen Küche. "Zehn überzeugte Soldaten oder Arbeiter einer rückständigen Fabrik", schrieb er, "sind tausendmal mehr wert als hundert untergeschobene Delegierte." Trotzki wies im Petrograder Sowjet nach, daß die Genossenschaftsbeamten ebensowenig den politischen Willen der Bauern ausdrücken wie etwa der Arzt den politischen Willen seiner Patienten oder ein Postbeamter die Anschauungen der Absender und Empfänger von Briefen. "Genossenschaftler müssen gute Organisatoren, Kaufleute, Buchhalter sein, doch die Verteidigung ihrer Klassenrechte übertragen Bauern wie Arbeiter ihren Sowjets." Das hinderte die Genossenschaftler nicht, hundertfünfzig Plätze zu erhalten und gemeinsam mit den nicht reformierten Semstwos und allerhand anderen bei den Haaren herbeigezogenen Organisationen den Charakter der Vertretung der Massen völlig zu verfälschen.
Der Petrograder Sowjet nahm in die Liste seiner Delegierten zur Beratung Lenin und Sinowjew auf. Die Regierung erließ einen Befehl, beide beim Betreten des Theatergebäudes zu verhaften, aber nicht im Sitzungssaal selbst: das war wohl ein Kompromiß zwischen Versöhnlern und Kerenski. Doch beschränkte sich die Sache auf eine politische Demonstration seitens des Sowjets: weder Lenin noch Sinowjew hatten vor, in der Beratung zu erscheinen. Lenin war der Ansicht, die Bolschewiki hätten dort überhaupt nichts zu suchen.
Die Beratung wurde eröffnet am 14. September, genau einen Monat nach der Staatsberatung, im Zuschauersaal des Alexandrinski-Theaters. Die Zahl der zugelassenen Vertreter erreichte 1.775. Etwa 1.200 wohnten der Eröffnung bei. Die Bolschewiki waren selbstverständlich in der Minderheit. Aber trotz allen Kunstgriffen des Wahlsystems bildeten sie eine sehr imposante Gruppe, die in gewissen Fragen über ein Drittel der gesamten Stimmen auf sich vereinigte.
Ist es einer starken Regierung würdig, vor einer "privaten" Beratung aufzutreten? Diese Frage war Gegenstand großer Schwankungen im Winterpalais, die sich in Aufregungen im Alexandrinski-Theater widerspiegelten. Endlich beschloß das Regierunghaupt, sich der Demokratie zu zeigen. "Mit Beifall empfangen", erzählt Schljapnikow über Kerenskis Erscheinen, "begab er sich zum Präsidium, um
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