Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
Gemeindewahlkommission, Fürsten Druzki-Lubezki, den sie der Wahllistenschiebung beschuldigten: es fiel den Bauern nicht leicht, sich mit dem Fürsten über die demokratische Lösung des jahrhundertealten Streites zu verständigen. Der Bu-gulminsker Kreiskommissar meldet: "Die Wahlen zu den Gemeindesemstwos sind im Kreise nicht ganz planmäßig verlaufen ... Die Zusammensetzung der Gemeindeabgeordneten ist rein bäuerlich, es läßt sich eine Entfremdung der Ortsintelligenz feststellen, besonders den Bodenbesitzern gegenüber." Somit unterschieden sich die Semstwos wenig von den Komitees. "Zur Intelligenz, besonders zu den Bodenbesitzern", klagt der Minsker Gouvernementskommissar, "verhält sich die Bauernmasse ablehnend." In der Mohilewer Zeitung vom 23. September ist zu lesen: "Die Arbeit der Intelligenz auf dem Lande ist mit Gefahren verbunden, verspricht man nicht kategorisch, die sofortige Übergabe des gesamten Bodens an die Bauern zu unterstützen." Wo eine Verständigung und sogar ein Verkehr zwischen den Hauptklassen unmöglich wird, verschwindet der Boden für Institutionen der Demokratie. Die Totgeburt der Gemeinde-semstwos kündete unfehlbar den Zusammenbruch der Konstituierenden Versammlung an.
"Unter der hiesigen Bauernschaft", meldet der Nischegoroder Kommissar, "hat sich der Glaube gefestigt, alle bürgerlichen Gesetze hätten ihre Kraft verloren und alle Rechtsbegriffe müßten jetzt durch die Bauernorganisationen reguliert werden." Die örtliche Miliz zu ihrer Verfügung, erließen die Gemeindekomitees lokale Gesetze, bestimmten Pachtpreise, regulierten den Arbeitslohn, setzten eigene Verwalter auf den Gütern ein, nahmen Boden, Wiesen, Wälder, Inventar in eigene Hand, holten dem Gutsbesitzer die Waffen weg, nahmen Haussuchungen und Verhaftungen vor. Die Stimme der Jahrhunderte und die frische Revolutionserfahrung sagten dem Bauern in gleicher Weise, daß die Bodenfrage die Frage der Macht sei. Für die Agrarumwälzung waren Organe der Bauerndiktatur notwendig. Der Muschik wußte um dieses lateinische Wort noch nicht. Aber der Muschik wußte, was er wollte. Jene "Anarchie", über die Gutsbesitzer, liberale Kommissare und versöhnlerische Politiker klagten, war in Wirklichkeit die erste Etappe der revolutionären Diktatur auf dem Lande.
Die Notwendigkeit der Schaffung besonderer, rein bäuerlicher lokaler Organe für die Agrarumwälzung verteidigte Lenin schon während der Ereignisse von 1905/06: "Revolutionäre Bauernkomitees", bewies er auf dem Stockholmer Parteikongreß, "sind der einzige Weg, den die Bauernbewegung gehen kann." Der Muschik las Lenin nicht. Dafür aber las Lenin die Gedanken des Muschiks gut.
Das Dorf ändert sein Verhalten zu den Sowjets erst gegen Herbst, wo die Sowjets selbst ihren politischen Kurs ändern. Die bolschewistischen und linkssozialrevolutionären Sowjets in den Kreis- oder Gouvernementsstädten halten jetzt die Bauern nicht mehr zurück, im Gegenteil, sie stoßen sie vorwärts. Hatte das Dorf in den ersten Monaten bei den Versöhnlersowjets legale Deckung gesucht, um später in feindliche Konflikte mit ihnen zu geraten, so fand es jetzt zum erstenmal in den revolutionären Sowjets eine wirkliche Führung. Saratower Bauern schrieben im September: "Die Macht muß in ganz Rußland in die Hände ... der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputiertensowjets übergehen. So wird es sicherer sein." Erst gegen Herbst beginnt die Bauernschaft ihr Bodenprogramm mit der Parole Sowjetmacht zu verbinden. Aber auch dabei weiß sie noch nicht, wie und durch wen diese Sowjets geführt werden sollen.
Agrarunruhen hatten in Rußland ihre große Tradition, ihr einfaches, aber grelles Programm, ihre Lokalmärtyrer und Helden. Die gewaltige Erfahrung von 1905 war auch für das Dorf nicht spurlos vorbeigegangen. Hierbei ist noch die Arbeit der Sektiererideen, die Millionen Bauern erfaßten, in Betracht zu ziehen. "Ich kannte", schreibt ein unterrichteter Autor, "viele Bauern ..., die die Oktoberrevolution als direkte Erfüllung ihrer religiösen Hoffnungen aufnahmen." Von allen Bauernaufständen, die die Geschichte kennt, war die Bewegung der russischen Bauernschaft von 1917 zweifellos die am meisten von politischen Gedanken befruchtete. Und hat sie sich dennoch als unfähig erwiesen, sich eine selbständige Führung zu schaffen und die Macht in die eigenen Hände zu nehmen, so sind die Gründe dafür in der organischen Natur der isolierten herkömmlichen Kleinwirtschaft zu suchen:
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