Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
diese sog aus dem Bauer alle Säfte, ohne ihn dafür mit der Fähigkeit zu Verallgemeinerungen auszustatten.
Die politische Freiheit des Bauern bedeutet in der Praxis die Freiheit, zwischen den verschiedenen städtischen Parteien zu wählen. Doch auch diese Wahl vollzieht sich nicht a priori. Durch ihren Aufstand stößt die Bauernschaft die Bol-schewiki an die Macht. Aber erst nach der Machteroberung werden die Bolschewiki die Bauernschaft erobern können, indem sie die Agrarrevolution zum Gesetz des Arbeiterstaates erheben.
Eine Forschergruppe unter Jakowlews Leitung nahm eine sehr wertvolle Klassifizierung der Materialien vor, die die Evolution der Agrarbewegung vom Februar bis Oktober charakterisieren. Die Zahl der unorganisierten Zusammenstöße mit einhundert pro Monat zugrunde legend, berechneten die Forscher, daß an "organisierten" Konflikten auf den April dreiunddreißig, auf den Juni sechsundachtzig, auf Juli 120 entfielen. Das war der Augenblick der höchsten Blüte der sozialrevolutionären Organisationen auf dem Lande. Im August kommen auf hundert unorganisierte Konflikte bereits nur zweiundsechzig organisierte, im Oktober insgesamt vierzehn. Aus diesen bei all ihrer Bedingtheit höchst lehrreichen Zahlen zieht Jakowlew jedoch eine ganz überraschende Schlußfolgerung: wenn die Bewegung bis zum August immer "organisiertere" Formen annahm, so gewinnt sie im Herbst dagegen einen immer "elementareren Charakter". Zur gleichen Formel gelangt ein anderer Forscher, Wermenitschew: "Das Sinken des organisierten Teiles der Bewegung in der Periode der Voroktoberwelle beweist das Elementare der Bewegung in diesen Monaten." Stellt man das Elementare dem Bewußten, wie Blindheit dem Sehvermögen, gegenüber und das wäre die einzige wissenschaftliche Gegenüberstellung -, dann müßte man zu der Schlußfolgerung kommen, daß das Bewußte in der Bauernbewegung bis August steigt, dann zu fallen beginnt, um im Moment des Oktoberaufstandes gänzlich zu verschwinden. Dieses haben unsere Forscher offenbar nicht sagen wollen. Bei einem einigermaßen nachdenklichen Verhalten zu der Frage ist es unschwer zu begreifen, daß zum Beispiel die Bauernwahlen zur Konstituierenden Versammlung, trotz all ihrer äußerlichen "Organisiertheit", einen unvergleichlich "elementareren", das beißt unvernünftigeren, herdenmäßigeren blinderen Charakter gehabt hatten als der "unorganisierte" Bauernfeldzug gegen die Gutsbesitzer, wo jeder Bauer klar wußte, was er wollte.
Auf dem Herbstgipfel brach die Bauernschaft nicht mit dem Bewußten zugunsten des Elementaren, sondern mit der Versöhnlerführung zugunsten des Bürgerkriegs. Der Niedergang der Organisiertheit hatte wesentlich äußerlichen Charakter: die Versöhnlerorganisationen kommen in Wegfall; aber sie hinterlassen keinesfalls einen leeren Platz. Das Beschreiten des neuen Weges vollzog sich unter unmittelbarer Führung der revolutionärsten Elemente: Soldaten, Matrosen und Arbeiter. Vor entscheidenden Taten riefen die Bauern häufig allgemeine Versammlungen ein, sorgten sogar dafür, daß Beschlüsse von allen Dorfgenossen unterzeichnet wurden. "In der Herbstperiode der Bauernbewegung mit ihren Zerstörungsformen", schreibt der dritte Forscher, Schestakow, "tritt häufig die alte "Dorfversammlung" der Bauern in Erscheinung ... In der Dorfversammlung verteilt die Bauernschaft das enteignete Hab und Gut, durch die Dorfversammlung verhandelt sie mit den Gutsbesitzern und Gutsadministrationen, den Kreiskommissaren und den Be-schwichtigern anderer Art" ...
Weshalb die Gemeindekomitees, die den Bauern dicht an den Bürgerkrieg herangeführt hatten, vom Schauplatz verschwanden, darüber enthalten die Materialien keine direkten Angaben. Aber die Erklärung drängt sich von selbst auf. Die Revolution verbraucht rapid ihre Organe und Werkzeuge. Schon deshalb, weil die Landkomitees die halb friedlichen Handlungen geleitet hatten, mußten die sich für den direkten Sturm als wenig geeignet erweisen. Der allgemeine Grund wird durch besondere, aber nicht weniger schwerwiegende Ursachen ergänzt. Indem sie den Weg des offenen Krieges gegen die Gutsbesitzer beschritten, wußten die Bauern nur allzu gut, was ihnen im Falle einer Niederlage drohte. Nicht wenige Landkomitees saßen ohnehin bereits bei Kerenski hinter Schloß und Riegel. Die Verantwortung zu dekonzentieren, wurde unerläßliche Forderung der Taktik. Die geeignetste Form dafür war der "Mir". In gleicher Richtung wirkte außerdem
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