Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
Dinge nehmen werden und was Wilson sagen wird. Erst am 13. Oktober, als durch den endgültigen Zusammenbruch der Armee und der Monarchie eine "revolutionäre Situation eintrat, für die", nach Bauers Worten, "unser nationales Programm gedacht war", stellten die Austromarxisten praktisch die Frage der Selbstbestimmung: wahrlich, sie hatten nichts mehr zu verlieren. "Mit dem Zusammenbruch seiner Herrschaft über die anderen Nationen", erklärt Otto Bauer ganz offenherzig, "sah das deutschnationale Bürgertum seine geschichtliche Mission beendet, um deretwillen es bisher die Trennung vom deutschen Mutterlande willig ertragen hatte." Das neue Programm wurde in Umlauf gebracht, nicht weil es die Unterdrückten notwendig hatten, sondern weil es aufgehört hatte, eine Gefahr für die Unterdrücker zu sein. Die besitzenden Klassen, hineingetrieben in eine historische Klemme, waren gezwungen, die nationale Revolution juristisch anzuerkennen; der Austromarxismus hielt es nun an der Zeit, sie theoretisch zu legalisieren. Dies ist eine reife Revolution, eine rechtzeitige, historisch vorbereitete: sie hat sich ja doch schon vollzogen. Die Seele der Sozialdemokratie liegt vor uns, wie auf der flachen Hand!
Ganz anders verhielt es sich mit der sozialen Revolution, die keinesfalls auf Anerkennung der besitzenden Klassen hoffen konnte. Sie hieß es zu verschieben, zu entthronen, zu kompromittieren. Da das Kaiserreich naturgemäß nach den schwächsten, das heißt nach den nationalen Fugen auseinanderfiel, zieht Otto Bauer daraus die Schlußfolgerung über den Charakter der Revolution: "Noch war sie durchaus nicht soziale, sondern nationale Revolution." In Wirklichkeit hatte die Bewegung von Anfang an tiefen, sozialrevolutionären Inhalt. Der "nur" nationale Charakter der Revolution wird nicht schlecht dadurch illustriert, daß die besitzenden Klassen Österreichs die Entente offen aufforderten, die gesamte Armee gefangenzunehmen. Die deutsche Bourgeoisie flehte den italienischen General an, Wien mit italienischen Truppen zu besetzen!
Die pedantisch vulgäre Trennung zwischen nationaler Form und sozialem Inhalt eines revolutionären Prozesses, angeblich als zwei selbständigen historischen Stadien - wir sehen, wie sehr sich Otto Bauer hier Stalin nähert! -, war von höchst utilitaristischer Bedeutung: sie sollte die Zusammenarbeit der Sozialdemokratie mit der Bourgeoisie im Kampfe gegen die Gefahren der sozialen Revolution rechtfertigen.
Nimmt man nach Marx an, die Revolution sei Lokomotive der Geschichte, dann muß man dem Austromarxismus dabei die Rolle der Bremse zuweisen. Bereits nach dem faktischen Zusammenbruch der Monarchie konnte sich die Sozialdemokratie, zur Teilnahme an der Macht berufen, noch immer nicht entschließen, von den alten Habsburgischen Ministern Abschied zu nehmen: die "nationale" Revolution beschränkte sich darauf, sie durch Staatssekretäre zu unterstützen. Erst nach dem 9. November, als die deutsche Revolution die Hohenzollern gestürzt hatte, schlug die österreichische Sozialdemokratie dem Staatsrat vor, die Republik auszurufen, die bürgerlichen Partner mit der Bewegung der Massen schreckend, durch die sie selbst bis auf Mark und Bein eingeschüchtert war. "Die Christlichsozialen", ironisiert unvorsichtigerweise Otto Bauer, "die noch am 9. und 10. November zur Monarchie standen, entschlossen sich am 11. November, ihren Widerstand aufzugeben ..." Um ganze zwei Tage hatte die Sozialdemokratie die Partei der Schwarzhundert-Monarchisten überholt! Alle heroischen Legenden der Menschheit verblassen vor diesem revolutionären Schwung.
Gegen ihren Willen gelangte die Sozialdemokratie zu Beginn der Revolution automatisch an die Spitze der Nation, wie die russischen Menschewiki und Sozialrevolutionäre. Gleich diesen hatte auch sie die größte Angst vor der eigenen Kraft. In der Koalitionsregierung war sie bestrebt, das kleinste Eckchen einzunehmen. Otto Bauer erläutert: "Aber es entsprach dem vorerst noch nur nationalen Charakter der Revolution, daß die Sozialdemokraten zunächst nur einen bescheidenen Anteil an der Regierung beanspruchten." Die Frage der Macht entscheidet für diese Menschen nicht das reale Kräfteverhältnis, nicht die Gewalt der revolutionären Bewegung, nicht der Bankrott der herrschenden Klassen, nicht der politische Einfluß der Partei, sondern das pedantische Schildchen "nur nationale Revolution", das die weisen Klassifikatoren den Ereignissen angeklebt hatten.
Karl Renner
Weitere Kostenlose Bücher