Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
verändern als Ideen. Dennoch hatte die Theorie lediglich die Bedürfnisse der Praxis zu Ende entwickelt. Um die Befreiung und einen kulturellen Aufstieg zu erreichen, waren die unterdrückten Nationalitäten gezwungen, ihr Schicksal mit dem Schicksal der Arbeiterklasse zu verbinden. Dazu aber mußten sie sich von der Führung ihrer bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien befreien, das heißt weit vorauseilen auf dem Weg der historischen Entwicklung.
Die Eingliederung der nationalen Bewegung in den Grundprozeß der Revolution, in den Kampf des Proletariats um die Macht, vollzieht sich nicht mit einem Male, sondern in mehreren Etappen, und zwar in den verschiedenen Landesgebieten verschieden. Ukrainische, weißrussische oder tatarische Arbeiter, Bauern und Soldaten, Kerenski, dem Krieg und der Russifizierung friedlich, wurden damit allein schon, trotz ihrer Versöhnler-Führung, Verbündete des proletarischen Aufstandes. Von objektiver Unterstützung der Bolschewiki werden sie auf einer weiteren Etappe gezwungen, auch subjektiv den Weg des Bolschewismus zu betreten. In Finnland, Lettland, Estland, schwächer auch in der Ukraine, nimmt die in Schichten zerfallende Nationalbewegung um den Oktober herum derartige Verschärfung an, daß nur die Einmischung ausländischer Truppen hier den Sieg der proletarischen Umwälzung verhindern kann. Im asiatischen Osten, wo das nationale Erwachen in den primitivsten Formen vor sich ging, sollte es erst allmählich und mit größerer Verspätung unter die Führung des Proletariats geraten, bereits nach dessen Machteroberung. Überblickt man den komplizierten und widerspruchsvollen Prozeß in seiner Gesamtheit, ist die Schlußfolgerung klar: der nationale wie der agrarische Strom ergossen sich in das Bett der Oktoberumwälzung.
Der unabwendbare und unaufhaltsame Übergang der Massen von elementarsten Aufgaben der politischen, agrarischen und nationalen Entsklavung zur Herrschaft des Proletariats ergab sich nicht aus "demagogischer" Agitation, nicht aus vorgefaßten Schemen, nicht aus der Theorie der permanenten Revolution, wie die Liberalen und die Versöhnler wähnten, sondern aus Rußlands sozialer Struktur und den Bedingungen der internationalen Lage. Die Theorie der permanenten Revolution formulierte diesen kombinierten Entwicklungsprozeß nur.
Es handelt sich hier nicht allein um Rußland. Die Eingliederung der verspäteten nationalen Revolutionen in die proletarische Revolution hat ihre internationale Gesetzmäßigkeit. Während im neunzehnten Jahrhundert die Hauptaufgabe der Kriege und Revolutionen noch immer darin bestand, den Produktivkräften den nationalen Markt zu sichern, besteht die Aufgabe unseres Jahrhunderts darin, die Produktivkräfte aus den nationalen Grenzen, die für sie eiserne Fesseln geworden sind, zu befreien. Im breiten historischen Sinne bilden die nationalen Revolutionen des Ostens Stufen der Weltrevolution des Proletariats, wie die nationalen Bewegungen in Rußland Stufen der Sowjetdiktatur wurden.
Lenin hatte mit bemerkenswerter Tiefe die revolutionäre Kraft eingeschätzt, die im Schicksal der unterdrückten Nationalitäten sowohl des zaristischen Rußland wie der ganzen Welt enthalten ist. Nichts außer Verachtung fand in seinen Augen jener heuchlerische "Pazifismus", der den Krieg Japans gegen China, zum Zwecke seiner Versklavung, wie Chinas Krieg gegen Japan im Namen der eigenen Befreiung in gleicher Weise "verurteilt". Für Lenin war der nationale Befreiungskrieg im Gegensatz zum imperialistischen Unterjochungskrieg nur eine andere Form der nationalen Revolution, die wiederum ein notwendiges Glied im Befreiungskampfe des Weltproletariats bedeutet.
Aus dieser Einschätzung nationaler Revolutionen und Kriege folgt jedoch keinesfalls die Anerkennung irgendeiner revolutionären Mission der Bourgeoisie kolonialer oder halbkolonialer Nationen. Im Gegenteil, gerade die Bourgeoisie der rückständigen Länder entwickelt sich von den Milchzähnen an als Agentur des ausländischen Kapitals und befindet sich trotz neidischer Feindschaft in allen entscheidenden Fällen mit diesem im gleichen Lager. Das chinesische Kom-pradorentum ist die klassische Form einer kolonialen Bourgeoisie, wie die Kuomintang die klassische Partei des Kom-pradorentums. Die Spitzen der Kleinbourgeoisie, darunter auch die Intelligenz, können sich aktiv, mitunter geräuschvoll, am nationalen Kampfe beteiligen, sind aber völlig unfähig für eine selbständige Rolle. Nur die
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