Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
kampffähig seien, sagte ich in einem Privatgespräch mit Ihrem Vertreter, einem Offizier, daß ... wir solcher Truppenteile an der Front zur Genüge hätten; aber in Anbetracht des von Ihnen geäußerten Wunsches, sie an die Front zu schicken, lehnte ich es nicht ab und lehne es auch heute nicht ab, falls Sie die Versetzung der Truppen aus Petrograd auch weiterhin als notwendig betrachten sollten." Der halb polemische Charakter des Telegramms läßt sich damit erklären, daß Tscheremissow, ein zur höheren Politik neigender General, der in der Zarenarmee als "Roter" galt und später nach Miljukows Äußerung "Favorit der revolutionären Demokratie" wurde, inzwischen offenbar zu der Schlußfolgerung gelangt war, daß es besser sei, sich von der Regierung bei deren Konflikt mit den Bolschewiki beizeiten abzugrenzen. Tscheremissows Verhalten in den Tagen der Umwälzung bestätigt diese Deutung vollauf.
Der Kampf um die Garnison verflocht sich mit dem Kampf um den Sowjetkongreß. Bis zu dem ursprünglich vorgesehenen Termin blieben vier bis fünf Tage. Man erwartete die "Erhebung" im Zusammenhang mit dem Kongreß. Es wurde angenommen, daß die Bewegung, wie in den Julitagen, sich nach dem Typus einer bewaffneten Massendemo n-stration mit Straßenkämpfen entwickeln würde. Der rechte Menschewik Potressow, offenbar gestützt auf Angaben der Konterspionage oder der französischen Militärmission, die kühn falsche Dokumente fabrizierte, schilderte in der bürgerlichen Presse den Plan der bolschewistischen Erhebung, die in der Nacht auf den 17. Oktober stattfinden sollte. Die findigen Autoren des Planes vergaßen nicht, vorzusehen, daß die Bolschewiki bei einer ihrer Sperrketten "dunkle Elemente" mitnehmen würden. Soldaten der Garderegimenter können ebensogut lachen wie die Götter Homers. Die weißen Säulen und die Lüster des Smolny erbebten vor Lachsalven beim Verlesen des Potressowschen Artikels in einer Sitzung des Sowjets. Doch die weise Regierung, die nicht zu erkennen vermochte, was vor ihren Augen geschah, war ernstlich erschrocken über die unsinnige Fälschung und versammelte sich in aller Eile um zwei Uhr nachts, um die "dunklen Elemente" abzuwehren. Nach neuen Beratungen Kerenskis mit den Militärbehörden wurden erforderliche Maßnahmen ergriffen: die Wachen des Winterpalais und der Staatsbank verstärkt; zwei Fähnrichschulen aus Oranien-baum angefordert und sogar ein Panzerzug von der rumänischen Front. "In letzter Minute gaben die Bolschewiki", nach Miljukows Worten, "ihre Vorbereitungen auf. Warum sie das taten, ist unklar." Mehrere Jahre nach den Ereignissen zog es der gelehrte Geschichtsschreiber immer noch vor, einer sich selbst widerlegenden Erfindung zu glauben.
Die Behörden beauftragten die Miliz, eine Rekognoszierung in den Außenbezirken der Stadt vorzunehmen, um die Spuren des sich vorbereitenden Aufstandes zu entdecken. Die Berichte der Miliz bilden eine Mischung von lebendigen Beobachtungen und Polizeistumpfsinn. Im Alexandro-Newski-Stadtteil, wo eine Reihe der größten Fabriken liegt, beobachteten die Kundschafter völlige Ruhe. Im Wyborger Bezirk predigte man offen die Notwendigkeit des Regierungssturzes, aber "nach außen" war alles ruhig. Im Wassiliostrower Bezirk ist die Stimmung bewegt, aber auch dort "keine äußeren Anzeichen einer nahenden Erhebung". Auf der Narwaer Seite wird heftig für den Aufstand agitiert, aber auf die Frage, wann eigentlich, konnte man von niemand Antwort erhalten: entweder wird Tag und Stunde streng geheim gehalten, oder aber keiner kennt sie tatsächlich. Es wird beschlossen: die Patrouillen in den Außenbezirken zu verstärken und durch Milizkommissare die Posten häufiger zu kontrollieren.
Die Korrespondenz einer Moskauer liberalen Zeitung ergänzt nicht übel den Bericht der Miliz: "In den Außenbezirken, in den Newski-, Obuchow- und Putilow-Werken, ist die bolschewistische Agitation für den Aufstand in voller Entfaltung. Die Stimmung der Arbeiter ist derart, daß sie jeden Augenblick bereit sind, zu marschieren. In den letzten Tagen ist in Petrograd ein unerhörter Zustrom von Deserteuren zu beobachten ... Auf dem Warschauer Bahnhof kann man sich kaum bewegen vor verdächtig aussehenden Soldaten mit brennenden Augen und erregten Gesichtern ... Man berichtet, daß in Petrograd ganze Diebesbanden, die Beute wittern, eingetroffen seien. Dunkle Elemente, die Teehäuser und Spelunken füllen, werden organisiert ... " Spießerängste und
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