Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
ist, erläßt noch Dekrete im Winterpalais. Lenin, der Inspirator der unerschütterlichen Massenbewegung, hält sich verborgen, und der Justizminister Mal-jantowitsch befiehlt in diesen Tagen dem Staatsanwalt erneut, Lenins Verhaftung anzuordnen. Sogar im Smolny, auf seinem eigenen Territorium, lebt der allmächtige Petrograder Sowjet scheinbar nur von Gnaden. Die Verwaltung von Gebäuden, Kasse, Expedition, Automobilen, Telephonen ist noch immer in Händen des Zentral-Exekutivkomitees, das sich selbst an den dünnen Fäden der Erbfolge hält.
Suchanow erzählt, wie er nach der Sitzung, spät nachts, in die Anlagen des Smolny hinausging, in höllische Finsternis und strömenden Regen. Eine ganze Menge Delegierter stampfte hoffnungslos vor den paar rauchenden und qualmenden Automobilen, die die reichen Garagen des Zentral-Exekutivkomitees dem bolschewistischen Sowjet überlassen hatten. "An die Automobile", erzählt der allgegenwärtige Beobachter, "ging auch der Vorsitzende Trotzki heran. Doch nachdem er eine Minute stehengeblieben war und zugesehen hatte, lächelte er, patschte durch die Pfützen davon und verschwand in der Dunkelheit." Auf der Trambahnplattform stieß Suchanow mit einem kleinen Mann von bescheidenem Aussehen, mit schwarzem Spitzbärtchen zusammen. Der Unbekannte bemühte sich, Suchanow über die Unbill des langen Weges zu trösten. "Wer ist das?" fragte Suchanow seine Begleiterin, eine Bolschewikin. "Der alte Parteiarbeiter Swerdlow." Kaum zwei Wochen später wird dieser kleine Mann mit dem schwarzen Bärtchen Vorsitzender des Zentral-Exekutivkomitees sein, des obersten Organs der Sowjetrepublik. Allem Anschein nach tröstete Swerdlow seinen Reisebegleiter aus einem Dankbarkeitsgefühl heraus: acht Tage zuvor hatte in Suchanows Wohnung, allerdings ohne dessen Wissen, jene Sitzung des Zentralkomitees der Bolschewiki stattgefunden, die den bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung stellte.
Am nächsten Morgen unternimmt das Zentral-Exekutivkomitee einen Versuch, das Rad der Ereignisse zurückzudrehen. Das Präsidium beruft eine "gesetzmäßige" Garnisonversammlung ein, wobei es auch jene zurückgebliebenen, seit langem nicht mehr neu gewählten Komitees hinzuzieht, die am Vorabend gefehlt hatten. Die Nachprüfung der Garnison, die etliches Neue brachte, bestätigte um so krasser das gestrige Bild. Gegen eine Erhebung sprachen sich diesmal aus: die meisten Komitees der in der Peter-Paul-Festung stationierten Truppenteile und die Komitees der Panzerdivision: die einen wie die anderen erklärten ihre Unterordnung unter das Zentral-Exekutivkomitee. Das ist nicht zu ignorieren.
Die auf der kleinen von der Newa und deren Kanal umspülten Insel zwischen der Innenstadt und zwei Bezirken liegende Festung beherrscht die nächsten Brücken und deckt oder aber entblößt von der Flußseite her die Zugänge zum Winterpalais, dem Sitz der Regierung. Ohne militärische Bedeutung bei Operationen größeren Maßstabes, kann die Festung ein gewichtiges Wort im Straßenkampf mitsprechen. Außerdem, und das ist vielleicht das wichtigste, befindet sich bei der Festung das reiche Kronwerksker Arsenal: die Arbeiter brauchen Gewehre, aber auch die revolutionären Regimenter sind fast ohne Waffen. Die Wichtigkeit von Panzerwagen für den Straßenkampf bedarf keiner Erläuterungen: auf seiten der Regierung können sie viele unnötige Opfer fordern; auf seiten des Aufstandes - den Weg zum Siege abkürzen. Der Festung und der Panzerdivision werden die Bolschewiki in den nächsten Tagen besonderes Augenmerk zuwenden müssen. Im übrigen erwies sich das Kräfteverhältnis in der Beratung als das gleiche wie tags zuvor. Der Versuch des Zentral-Exekutivkomitees, seinen sehr, vorsichtig gehaltenen Beschluß durchzusetzen, fand kühle Zurückweisung seitens der erdrückenden Mehrheit: einberufen nicht vom Petrograder Sowjet, hält sich die Versammlung nicht für befugt, Beschlüsse zu fassen. Die Versöhnlerführer hatten sich selbst diesem ergänzenden Schlag ausgesetzt.
Da es den Zugang zu den Regimentern von unten verbarrikadiert fand, versuchte das Zentral-Exekutivkomitee, sich der Garnison von oben zu bemächtigen. im Einvernehmen mit dem Stab ernannte es zum Hauptkommissar des gesamten Bezirkes Stabskapitän Malewski, einen Sozialrevolutionär, und erklärte sich bereit, die Sowjetkommissare anzuerkennen, vorausgesetzt, daß diese sich dem Hauptkommissar unterordnen. Dieser Versuch, sich vermittels eines völlig unbekannten
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