Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
Lüge. Doch die Kampffähigkeit konnte verschiedene Anwendung finden. In ohnmächtiger Wut erkannten die Menschewiki, daß der von ihnen zu patriotischen Zwecken aufgestellte Gedanke sich in eine Deckung des in Vorbereitung befindlichen Aufstandes verwandelte. Die Maskierung war nichts weniger als undurchsichtig: alle erkannten klar, um was es sich handelte, doch gleichzeitig blieb sie unangreifbar: hatten doch die Versöhnler früher das gleiche Verfahren angewandt, indem sie in kritischen Momenten die Garnison um sich gruppierten und parallel zu den Staatsorganen Machtorgane schufen. Die Bolschewiki folgten gewissermaßen bloß den Traditionen der Doppelherrschaft. Doch trugen sie in die alten Formen neuen Inhalt hinein. Was früher der Verständigung diente, führte jetzt zum Bürgerkrieg. Die Menschewiki verlangten, ins Protokoll aufzunehmen, daß sie gegen das ganze Unternehmen seien. Dieser platonischen Bitte wurde entsprochen.
Am nächsten Tage kam in der Soldatensektion, die jüngst noch die Garde der Versöhnler gewesen war, die Frage über das Militärische Revolutionskomitee und die Garnisonberatung zur Diskussion. Den Hauptplatz in dieser bemerkenswerten Sitzung nahm mit Recht der Vorsitzende des Zentrobalt ein, der Matrose Dybenko, ein schwarzbärtiger Riese, der um ein Wort nie verlegen war. Die Rede des Helsingforser Gastes drang als frische und scharfe Meeresbrise in die abgestandene Atmosphäre der Garnison. Dybenko berichtete vom endgültigen Bruch der Flotte mit der Regierung und von den neuen Beziehungen zum Kommando. Vor Beginn der letzten Seeoperationen hatte sich der Admiral an den in jenen Tagen stattfindenden Kongreß der Seeleute mit der Anfrage gewandt: werden Kampfbefehle ausgeführt werden? "Wir antworteten: sie werden es - unter unserer Kontrolle. Aber ... sollten wir erkennen, daß der Flotte Untergang droht, dann wird der Kommandierende als erster an einem Maste aufgehängt werden." Für die Petrograder Garnison war dies eine neue Sprache. Sie war auch in der Flotte erst in den allerletzten Tagen zur Anwendung gekommen. Es war die Sprache des Aufstands. Ein Häuflein Menschewiki knurrte verwirrt in einem Winkel. Das Präsidium betrachtete nicht ohne Besorgnis die kompakte Masse der grauen Uniformen. Nicht eine Proteststimme aus den ganzen Reihen! Die Augen brennen in erregten Gesichtern. Ein Geist der Verwegenheit weht über der Versammlung.
Von der allgemeinen Sympathie angefeuert, erklärte Dybenko zum Schluß mit sicherer Stimme: "Man spricht von der Notwendigkeit, die Petrograder Garnison zum Schutze der Zugänge Petrograds, im besonderen Revals, zu versetzen. Glaubt dem nicht. Reval werden wir selbst verteidigen. Bleibt hier und verteidigt die Interessen der Revolution ... Wenn wir eure Hilfe brauchen sollten, werden wir es euch selbst sagen, und ich bin überzeugt, daß ihr uns unterstützen werdet." Dieser Appell, den die Soldaten so gut begriffen, rief einen Sturm echter Begeisterung hervor, in dem die Proteste einzelner Menschewiki spurlos untergingen. Die Frage der Versetzung der Regimenter konnte man von nun an als entschieden betrachten.
Der von Lasimir vorgetragene Entwurf der Leitsätze wurde mit einer Mehrheit von 283 gegen eine Stimme bei 23 Stimmenthaltungen angenommen. Diese Zahlen, überraschend selbst für die Bolschewiki, ließen den revolutionären Druck der Massen erkennen. Die Abstimmung bedeutete, daß die Soldatensektion offen und offiziell die Verwaltung der Garnison aus den Händen des Regierungsstabes in die Hände des Militärischen Revolutionskomitees übertrug. Die nahe Zukunft wird zeigen, daß dies keine leere Demonstration war.
Am gleichen Tage veröffentlichte das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets die Mitteilung, daß eine eigene Sektion der Roten Garde ihm angegliedert sei. Die von den Versöhnlern in Acht getane und sogar verfolgte Sache der Arbeiterbewaffnung wurde zur wichtigsten Aufgabe des bolschewistischen Sowjets. Das argwöhnische Verhalten der Soldaten zur Roten Garde lag weit zurück. Im Gegenteil, fast in allen Regimentsresolutionen wird die Forderung der Arbeiterbewaffnung hervorgehoben. Rote Garde und Garnison stehen von nun an in einer Reihe. Bald werden sie sich noch enger verbinden durch gemeinsame Unterordnung unter das Militärische Revolutionskomitee.
Die Regierung wurde unruhig. Am Morgen des 14. fand bei Kerenski eine Ministerberatung statt, die den vom Stab getroffenen Maßnahmen gegen diese sich vorbereitende
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