Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
Tscheremissows erklärt worden war. Die Versetzung der Regimenter war inzwischen fast in Vergessenheit geraten. Doch auch am 23. war die Rede nicht vom Aufstand, sondern von "Verteidigung" des bevorstehenden Sowjetkongresses, wenn nötig, mit der Waffe in der Hand. In ebendiesem Sinne wurde auch eine dem Referat Antonows entsprechende Resolution angenommen.
Wie wurden die sich abspielenden Ereignisse auf den Regierungshöhen eingeschätzt? Während er in der Nacht zum 22. über die direkte Leitung dem Stabschef des Hauptquartiers, Duchonin, von den Versuchen des Militärischen Revolutionskomitees, die Regimenter dem Kommando zu entreißen, berichtet, fügt Kerenski hinzu: "Ich glaube, daß wir damit leicht fertigwerden." Seine, des Obersten Befehlshabers, Ankunft im Hauptquartier verzögere sich keinesfalls aus Befürchtung irgendwelcher Aufstände: "Damit würde man auch ohne mich fertigwerden, da alles organisiert ist." Den besorgten Ministern erklärt Kerenski beruhigend, er persönlich sei im Gegenteil über die bevorstehende Erhebung sehr froh, da sie ihm die Möglichkeit verschaffen werde, "endgültig mit den Bolschewiki abzurechnen". "Ich wäre bereit, eine Messe lesen zu lassen", antwortet das Regierungshaupt dem Kadetten Nabokow, einem häufigen Gaste des Winterpalais, "auf daß die Erhebung stattfinde." - "Sind Sie aber auch sicher, daß Sie mit ihnen fertigwerden können?" "Ich verfüge über mehr Kräfte als nötig, - sie werden endgültig zermalmt werden."
Während sie nachträglich über Kerenskis optimistischen Leichtsinn spöttelten, litten die Kadetten offensichtlich an Vergeßlichkeit: in Wirklichkeit betrachtete Kerenski die Ereignisse mit ihren eigenen Augen. Am 21. schrieb Miljukows Zeitung: sollten die Bolschewiki, von tiefer, innerer Krise zerfressen, es wagen, sich zu erheben, so werden sie an Ort und Stelle mühelos zermalmt werden. Eine andere kadettische Zeitung fügte hinzu: "Ein Gewitter steht bevor, doch gerade dies kann die Atmosphäre reinigen." Dan bezeugt, daß Kadetten und diesen nahestehende Gruppen in den Couloirs des Vorparlaments laut davon träumten, die Bolschewiki mögen nur so schnell wie möglich hervortreten: "Im offenen Kampfe werden sie sogleich aufs Haupt geschlagen werden." Angesehene Kadetten sagten John Reed: Die im Aufstande niedergeschlagenen Bolschewiki werden nicht imstande sein, in der Konstituierenden Versammlung das Haupt zu erheben.
Während des 22. und 23. hielt Kerenski Beratungen ab bald mit den Führern des Zentral-Exekutivkomitees, bald mit seinem Stab: sollte man nicht das Militärische Revolutionskomitee verhaften? Die Versöhnler rieten davon ab: sie würden selbst versuchen, die Frage der Kommissare beizulegen. Polkownikow war ebenfalls der Meinung, man brauche sich mit der Verhaftung nicht zu beeilen: Militärkräfte gäbe es erforderlichenfalls "mehr als genug". Kerenski lauschte auf Polkownikow, aber noch mehr auf seine Freunde-Versöhnler. Er rechnete fest damit, daß das ZentralExekutivkomitee im Falle der Gefahr, trotz häuslichen Mißverständnissen, rechtzeitig zu Hilfe kommen würde: so war es Juli und August gewesen; warum also sollte es auch nicht weiterhin so sein?
Doch es war bereits nicht mehr Juli und auch nicht August. Es war Oktober. Auf Petrograds Plätzen und Kais wehten von Kronstadt her naßkalte baltische Winde. Durch die Straßen zogen mit übermütigen Liedern, die die Unruhe übertönten, Junker in Uniformmänteln bis an die Fersen. Es paradierten berittene Milizionäre mit Revolvern in nagelneuen Futteralen. Nein, die Macht sah noch recht imposant aus! Oder ist es nur Augentäuschung? An einer Ecke des Newski kaufte John Reed, der Amerikaner mit den naiven und klugen Augen, eine Broschüre von Lenin: Werden die Bolsche-wiki die Macht behalten? und bezahlte sie mit einer der Briefmarken, die damals statt Kleingeld im Umlauf waren.
Kapitel 19: Lenin ruft zum Aufstand
Neben Fabriken, Kasernen, Dörfern, Front, Sowjets besaß die Revolution noch ein Laboratorium: Lenins Kopf. In Illegalität getrieben, war Lenin gezwungen, 111 Tage, vom 6. Juli bis zum 25. Oktober, seine Zusammenkünfte sogar mit den Mitgliedern des Zentralkomitees einzuschränken. Ohne unmittelbare Verbindung mit den Massen, ohne Berührung mit den Organisationen, konzentrierte er um so entschiedener seinen Gedanken auf die Kernfragen der Revolution, die er - was bei ihm in gleichem Maße Bedürfnis wie Regel war - zu Grundproblemen des Marxismus
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