Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
gestaltete.
Das Hauptargument der Demokraten, auch der allerlinkesten, gegen die Machtergreifung bestand in der Behauptung, die Werktätigen würden unfähig sein, sich des Staatsapparates zu bemächtigen. Ähnlich waren im wesentlichen auch die Befürchtungen der opportunistischen Elemente innerhalb des Bolschewismus selbst. "Staatsapparat!" Jeder Kleinbürger ist erzogen in Ehrfurcht vor diesem mystischen Prinzip, das sich über Menschen und Klassen erhebt. Der gebildete Philister trägt in seinen Knochen das gleiche Beben wie sein Vater oder Großvater, der Krämer oder wohlhabende Bauer vor den allmächtigen Institutionen, wo Fragen über Krieg und Frieden entschieden, wo Handelslizenzen erteilt werden, wo die Geißel der Steuern herstammt, wo man straft, aber manchmal auch Gnade übt, wo man Ehen und Geburten gesetzlich registriert, wo sogar der Tod sich ehrfurchtsvoll anstellen muß, ehe ihm Bestätigung zuteil wird. Staatsapparat! In Gedanken nicht nur den Hut, sondern auch die Stiefel abnehmend, betritt der Kleinbourgeois mag er Kerenski, Laval, Macdonald oder Hilferding heißen - auf den Sockenspitzen den Tempel des Idols, erheben ihn der persönliche Erfolg oder die Macht der Verhältnisse zum Minister. Für diese Gnade kann er sich nicht anders erkenntlich erweisen als durch demütige Ergebenheit vor dem "Staatsapparat". Die russischen radikalen Intellektuellen, die sich sogar während der Revolution an der Macht nicht anders zu beteiligen wagten als hinter dem Rücken der hochtitulierten Gutsbesitzer und der Männer des Kapitals, blickten mit Angst und Entrüstung auf die Bolschewiki: diese Straßenagitatoren, diese Demagogen gedenken sich des Staatsapparates zu bemächtigen!
Nachdem die Sowjets im Kampfe gegen Kornilow angesichts der Willenlosigkeit und Ohnmacht der offiziellen Demokratie die Revolution gerettet hatten, schrieb Lenin: "Mögen an diesem Beispiel alle Kleingläubigen lernen. Möge sich schämen, wer da sagt: "Wir haben keinen Apparat, der den alten, unvermeidlich zur Verteidigung der Bourgeoisie hinneigenden Apparat ersetzen könnte." Denn dieser Apparat ist da. Es sind eben die Sowjets. Fürchtet nicht Initiative und Selbständigkeit der Massen, vertraut euch den revolutionären Organisationen der Massen an - und ihr werdet auf allen Gebieten des Staatslebens die gleiche Kraft, Größe und Unbesiegbarkeit der Arbeiter und Bauern erkennen, die diese in ihrer Einigkeit, in ihrem Anstürmen gegen die Kornilowiade bewiesen haben."
In den ersten Monaten seiner Illegalität schreibt Lenin das Buch Staat und Revolution, für das er das Hauptmaterial bereits in der Emigration, in den Kriegsjahren ausgewählt hatte. Mit der gleichen Sorgfalt, mit der er praktische Tagesaufgaben überlegte, bearbeitet er jetzt theoretische Probleme des Staates. Er kann nicht anders: für ihn ist die Theorie tatsächlich eine Anleitung zum Handeln. Lenin stellt sich dabei nicht einen Augenblick die Aufgabe, ein neues Wort in die Theorie hineinzubringen. Im Gegenteil, seiner Arbeit verleiht er einen äußerst bescheidenen, unterstrichen schülermäßigen Charakter. Seine Aufgabe ist - die wahre "Lehre des Marxismus vom Staate" wiederherzustellen.
Durch die sorgfältige Auswahl der Zitate und deren detaillierte polemische Deutung mag das Buch pedantisch erscheinen ... wirklichen Pedanten, die unfähig sind, hinter der Analyse der Texte den mächtigen Puls des Gedankens und Willens zu verspüren. Allein durch Wiederaufrichtung der Klassentheorie vom Staat, auf einer neuen, höheren historischen Grundlage verleiht Lenin Marxens Gedanken neue Konkretheit und somit auch neue Bedeutsamkeit. Doch ihre unermeßliche Wichtigkeit erhält die Arbeit über den Staat vor allem dadurch, daß sie eine wissenschaftliche Einführung in die historisch größte Umwälzung darstellt. Marxens "Kommentator" bereitete seine Partei auf die revolutionäre Eroberung eines Sechstels des Erdterritoriums vor.
Wäre es möglich, den Staat den Bedürfnissen eines neuen historischen Regimes einfach anzupassen, es würden keine Revolutionen entstehen. Indes kam die Bourgeoisie selbst bis jetzt nicht anders an die Macht als auf dem Wege der Umwälzung. Nun ist die Reihe an den Arbeitern. Lenin gab auch in dieser Frage dem Marxismus seine Bedeutung wieder als theoretischem Werkzeug der proletarischen Revolution.
Die Arbeiter werden außerstande sein, sich des Staatsapparates zu bemächtigen? Aber es geht ja gar nicht darum, lehrt Lenin, sich der
Weitere Kostenlose Bücher