Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
Feststellung einer Krankheit herangeht vermittels konsequenten Ausscheidens alles Falschen, stellen seine hypothetischen Annahmen, beginnend mit den schlimmsten, nicht Irrtümer dar, sondern die Methode der Analyse.
Sobald die Bolschewiki die beiden hauptsächlichen Sowjets in ihren Händen hatten, sagte Lenin: "Unsere Zeit ist gekommen." Im April und Juli hielt er zurück; im August bereitete er theoretisch die neue Etappe vor; seit Mitte September ermahnte er zur Eile und treibt aus allen Kräften an. Jetzt besteht die Gefahr nicht im Vorauseilen, sondern im Zurückbleiben. "Verfrühtes kann es in dieser Hinsicht jetzt nicht geben."
In Artikeln und Briefen an das Zentralkomitee analysiert Lenin die Lage, wobei er jedesmal die internationalen Bedingungen voranstellt. Symptome und Tatsachen des Erwachens des europäischen Proletariats sind ihm auf dem Hintergrunde der Kriegsereignisse unbestreitbare Beweise dafür, daß die unmittelbare Bedrohung der russischen Revolution seitens des ausländischen Imperialismus immer mehr abnehmen wird. Verhaftungen der Sozialisten in Italien und besonders der Aufstand in der deutschen Flotte veranlassen ihn, einen ungeheuren Umschwung in der gesamten Weltlage zu proklamieren: "Wir stehen am Beginn der proletarischen Weltrevolution."
Diese Ausgangsposition Lenins möchte die epigonenhafte Historiographie verschweigen: sowohl deshalb, weil Lenins Berechnung durch die Ereignisse widerlegt scheint, wie auch, weil die russische Revolution, entsprechend den späteren Theorien, unter allen Umständen sich selbst genügen muß. Indes war die Leninsche Einschätzung der internationalen Lage nichts weniger als illusorisch. Die Symptome, die er durch das Sieb der Militärzensur aller Länder beobachtete, kündeten tatsächlich das Nahen eines revolutionären Sturmes. Bei den Mittelmächten erschütterte er ein Jahr später das alte Gebäude bis auf das Fundament. Aber auch in den Siegerländern, England und Frankreich, nicht zu sprechen von Italien, nahm er den regierenden Klassen für lange Zeit die Handlungsfreiheit. Gegen das starke, konservative, selbstsichere kapitalistische Europa hätte sich die isolierte, noch nicht erstarkte proletarische Revolution in Rußland nicht einmal wenige Monate halten können. Aber dieses Europa war nicht mehr. Die Revolution im Westen brachte zwar das Proletariat nicht an die Macht - die Reformisten retteten das bürgerliche Regime -, war aber immerhin stark genug, um die Sowjetrepublik in der ersten, gefährlichsten Periode ihres Daseins zu schützen.
Lenins tiefschürfender Internationalismus äußerte sich nicht nur darin, daß er die Einschätzung der internationalen Lage beständig in den Vordergrund schob; er betrachtete die Machteroberung in Rußland selbst vor allem als einen Anstoß zur europäischen Revolution, die, wie er mehr als einmal wiederholte, für das Schicksal der Menschheit unermeßlich größere Bedeutung haben müßte als die Revolution im rückständigen Rußland. Mit welchem Sarkasmus geißelt er jene Bolschewiki, die ihre internationale Pflicht nicht begreifen. "Nehmen wir eine Sympathieresolution für die deutschen Aufständischen an", höhnt er, "und verwerfen wir den Aufstand in Rußland. Das wird wahrer, vernünftiger Internationalismus sein!"
In den Tagen der demokratischen Beratung schreibt Lenin an das Zentralkomitee: "Nachdem sie in beiden hauptstädtischen Sowjets ... die Mehrheit erlangt haben ... , können und müssen die Bolschewiki die Staatsmacht in ihre Hände nehmen ... " Die Tatsache, daß die Mehrheit der Bauerndelegierten der künstlich zusammengesetzten Demokratischen Beratung gegen eine Koalition mit den Kadetten stimmte, war in Lenins Augen von entscheidender Bedeutung: dem Muschik, der ein Bündnis mit der Bourgeoisie nicht will, bleibt nichts weiter übrig, als die Bolschewiki zu unterstützen. "Das Volk ist der Schwankungen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre müde. Nur unser Sieg in den Hauptstädten wird die Bauern mitreißen." Die Aufgabe der Partei: "Auf die Tagesordnung ist zu stellen: bewaffneter Aufstand in Petrograd und Moskau, Machteroberung, Sturz der Regierung." Niemand hatte sich bis dahin so gebieterisch und nackt die Aufgabe der Umwälzung gestellt.
Lenin verfolgt genau alle Wahlen und Abstimmungen im Lande, sammelt aufmerksam die Zahlen, die auf das tatsächliche Kräfteverhältnis ein Licht zu werfen imstande sind. Für die halbanarchistische Gleichgültigkeit gegen
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